Frankreich:Europas Schicksalswahl

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Paris hat seine außenpolitische Gestaltungslust verloren, Berlin zieht wie ein Magnet die europäische Politik an sich. Das ist eine ungute Kräfteverteilung. Die Wahl bildet eine Zäsur für den Kontinent.

Von Stefan Kornelius

Frankreich und seine Präsidenten genießen höchsten Respekt in Deutschland. Kaum ein neugewählter Vertreter der bundesrepublikanischen Staatsspitze käme auf die Idee, nicht ganz schnell in Paris zum Antrittsbesuch zu erscheinen (vielleicht mit einem vorgeschalteten, kurzen Abstecher nach Brüssel). Niemand der etablierten Kräfte würde den Grundsatz in Abrede stellen, dass Europa nur funktioniert, wenn "der deutsch-französische Motor" rund läuft.

Das alles klingt seltsam ritualisiert und hohl, weil es durch Ereignisse der vergangenen Jahre entkräftet wurde. Die Beschwörung der deutsch-französischen Allianz wirkt rückwärtsgewandt und findet nicht unbedingt ihre Entsprechung in der deutsch-französischen Politik. Wer ernsthaft über Gründe nachdenkt, stößt bald auf ein Henne-Ei-Problem: War es der schwache und reformunfähige Präsident François Hollande, der sein Land auf ökonomische Talfahrt schickte? Oder war es die Unerbittlichkeit der deutschen Euro-Rettungslogik, die Frankreich jeder Flexibilität beraubte und es am Ende in die Apathie trieb?

Der nächste Präsident muss die Isolation Frankreichs beenden

Berlin und Paris schauen zwar auf eine lange Phase ökonomischer Disparität zurück, aber das Verhältnis zweier Staaten kann nicht allein vom Inhalt der Portemonnaies bestimmt sein. Während der Hollande-Zeit hat sich die gefühlte Kluft noch vergrößert, vor allem in der schwer messbaren Kategorie politischer Gestaltungskraft. Da spielten eine Menge Faktoren eine Rolle - der Terror, die Instabilität der Regierung, die Fixierung auf das Personal. Prinzipiell schien es eine Art innerer Lähmung zu sein, die Frankreich von einer aktiveren Europa- und Außenpolitik abhielt.

Nichts verdeutlicht diese Selbstbezogenheit besser als das Wahlprogramm der großen Mehrheit der Kandidaten bei dieser Präsidentenwahl. Bis auf den Konservativen François Fillon und den Zentristen Emmanuel Macron verfolgen die neun anderen Kandidaten einen antieuropäischen und/oder antikapitalistischen Kurs. Diese Kandidaturen waren zum Großteil Ausdruck von Revolutionsromantik. Aber sie zeigen auch, wie entrückt weite Teile der französischen Wähler von der Mitte und der Komplexität Europas sind.

Wenn die Briten erst einmal aus der Euroäpischen Union ausgetreten sind, wird es umso mehr Frankreich sein, das zusammen mit Deutschland die Geschicke des Kontinents bestimmt. Eine Bestandsaufnahme zeigt, dass beide Länder sich dafür ihre gemeinsame Analyse- und Handlungsfähigkeit erst wieder erarbeiten müssen. Die Bundesregierung wäre töricht, wenn sie annähme, dass die Fixierung der EU auf Berlin ein Dauerzustand sein kann. Und wer auch immer in zwei Wochen in Frankreich die Stichwahl gewinnt, wird Präsident Hollandes selbstquälerische Isolation nicht lange fortsetzen können. Die Europäische Union ist in den letzten Jahren nationalstaatlicher und behäbiger geworden. In ihrem Zentrum liegen nun zwei Staaten, die schicksalhafte Entscheidungen für den Kontinent treffen müssen.

© SZ vom 24.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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