Frankreich:Der Zorn bleibt wach

Frankreichs Protestkultur erobert die Nacht: Bei den "Nuits debout", der Zeit der Aufrechten, wird mit Techno gegen die Enttäuschung gekämpft.

Von Christian Wernicke, Paris

Er hat, wie alle hier, "die Schnauze voll". Von allem: "Von der Regierung, von den Reichen - und von der ganzen Ungerechtigkeit!" Gwen Bobeche schlägt den Kragen seines Parkas hoch. Es nieselt, ein kühler Wind streicht über die Place de la République. Und doch fühlt sich der 30-jährige Lehrer, der an einer Mittelschule in einer elenden Pariser Banlieue Kunst unterrichtet, sehr wohl an diesem Abend. Er ist einer von vielleicht fünfhundert meist jungen Leuten, die da zusammenstehen. Gerade hat eine Rednerin namens Tanja ins Mikro geschimpft, wie sie als Hostess von ihrem Chef genötigt werde, "kurze Röcke und hohe Absätze zu tragen - das ist nicht normal!" Jetzt ist Pierre dran. Der will "alle Parteien zum Teufel schicken" und brüllt ins Megafon: "Ich bin wir Ihr - und Ihr seid schön!" Gwen Bobeche klatscht und ruft: "Ich habe die Schnauze voll!" "Aber hier bin ich glücklich," fügt er hinzu.

Gwen Bobeche genießt seine erste "Nuit debout". Wörtlich heißt das "Nacht im Stehen". Doch der Ausdruck meint Größeres: "Nacht der Aufrechten" trifft eher das Selbstgefühl dieses friedlichen Protestes. Der hat seit dem 31. März, der ersten durchwachten Nacht auf der Place de la République, mittlerweile über ein Dutzend französischer Städte erfasst. Man schaut nach Sonnenuntergang vorbei, hört zu, redet, diskutiert, trinkt, tanzt, harrt aus. "Wir sind endlich nicht mehr allein mit unserer Enttäuschung, unserer Wut", erklärt Bobeche. Seine Freundin Pauline, die nicht ihren Nachnamen in der Zeitung lesen will ("Ich arbeite in einem Rathaus bei Paris") stimmt zu: "Niemand, weiß, wo dies hinführt. Aber egal - es macht Hoffnung!"

Frankreich: "La révolte gronde": Die Revolte donnert, steht auf einem der Banner, die Demonstranten am 9. April durch Paris tragen.

"La révolte gronde": Die Revolte donnert, steht auf einem der Banner, die Demonstranten am 9. April durch Paris tragen.

(Foto: Joel Saget/AFP)

Abertausende meist linke Franzosen haben inzwischen eine Nacht aufrecht durchgestanden. Oder sind wie Romain, der promovierte und arbeitslose Naturwissenschaftlicher, jeden Abend dabei: "Wir sind das Volk", sagt er, "gegen sie - gegen alle da oben!" Romain bleibt bis zum frühen Sonntagmorgen da, "bis zum 41. März", wie er sagt. Für die protestierenden Nachtschwärmer ist der 31. März der Beginn einer neuen Zeitrechnung.

Angefangen hatte alles mit den Demonstrationen gegen die Reform des französischen Arbeitsrechts, mit der Präsident Francois Hollande mehr Jobs schaffen wollte, unter anderem dadurch, dass es leichter Entlassungen geben kann. Der Plan der sozialistischen Regierung brachte Schüler und Studenten auf die Barrikaden. Am Samstag zogen landesweit 120 000 Menschen durch die Straße. Das waren zwar weniger als zuletzt, aber die Wut wuchert: In Rennes, in Nantes und auch in Paris nahmen gewaltsame Übergriffe zu. Als gegen Mitternacht dreihundert zum Teil vermummte Demonstranten zur Privatwohnung von Premierminister Manuel Valls aufbrachen und sich "zu einem Apero einladen" wollten, ging die Polizei mit Tränengas und Schlagstöcken vor. Am Sonntagmorgen waren mehrere Schaufenster und Bankautomaten zertrümmert.

Mit der regierenden Linken haben die Demonstranten gebrochen, sie bleiben führerlos

Die Aufrechten auf dem Platz lehnen solcherlei Gewalt strikt ab. Allenfalls heimlich hoffen sie, wie Romain, "dass die Polizei den Fehler macht, gegen uns brutal loszuschlagen - denn dann würde sich mehr Menschen mit uns solidarisieren." Romain muss schreien, hinter ihm rappt ein junger Mann mit dünnem Oberlippenbart von "Che Guevara" und andere Revolutionshelden. Die "Nuit debout" ist längst zum ein Happening geworden, mit Techno-Musik vom Band, samt Brass-Band und afrikanischen Trommlern. Daneben stehen zwei Tapeziertische mit linken Büchern: Das dünne "Manifest der glücklichen Arbeitslosen" ist ein Bestseller. Am Rande der Place de la République haben fliegende Händler in kapitalistischer Logik ihre Stände aufgebaut: Sie verkaufen "amerikanische Fritten", Crepes und Dosenbier. Und Kebab, ab fünf Euro. Am frühen Sonntagmorgen muss die Platzwache der Aufrechten - selbstironisch "Pôle Sérenité" ("Ruhe-Pol) getauft - die Polizei zur Hilfe rufen: Es gilt, einige sehr angeheiterte Störenfriede zu beruhigen.

Die "Aufrechten der Nacht" spüren, dass es so auf Dauer nicht weitergehen kann. Sie wollen sich nicht einfangen lassen von Parteien oder Gewerkschaften, bleiben strikt führerlos: "Jeder spricht nur für sich", erklärt Romain, der Nacht-Veteran. Mit der regierenden Linken haben sie gebrochen - viele von ihnen haben 2012 die Sozialisten und Francois Hollande gewählt und sind heute bitter enttäuscht: "Ich gehe seither zu keiner Wahl mehr - niemals," sagt Gwen Bobeche.

Manche der Aufrechten nennen sich die "Indignés", die Empörten. Dass soll an jene spanischen "Indignados" erinnern, die vor fünf Jahren mit ähnlichen Protesten begannen und nun in Madrid als "Podemos"-Partei im Parlament sitzen. Nur, von einer solchen Massenmobilisierung sind die französischen Nachtmenschen weit entfernt. Nachfahren nordafrikanischer Einwanderer aus den Banlieues gesellen sich bisher kaum zu ihnen. Das ist die größte Hoffnung der Regierung: Dass die Bewegung nicht übergreift auf die Vorstädte - und dass die Aufrechten auf dem Platz bleiben, wo sie sind.

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