Frankreich:Das große Wir

Die schwarz-weiß-arabische Weltmeister-Mannschaft lebt vor, was der Satz "Unsere Unterschiede vereinen uns" bedeutet.

Von Nadia Pantel

Als Frankreich am Morgen nach dem WM-Sieg aus dem kollektiven Rausch erwachte, hatte es zwei Möglichkeiten, auf seine Banlieues zu schauen. Es konnte dort entweder die Talentschmiede für die besten Fußballer der Welt sehen. Oder die Orte, von denen aus Jungsbanden losfuhren, um Scheiben einzuschlagen und Autos anzuzünden. Das Land hat sich für die erste Option entschieden. Der Sieg der französischen Nationalmannschaft ist der Triumph der Vorstädte. Und er bietet dem ganzen Land die Gelegenheit, aufzuatmen und Mut zu fassen.

Man könnte es angesichts der täglichen Meldungen über Krieg und Vertreibung fast vergessen, aber: Menschen mögen Menschen. Allein vor dem Eiffelturm versammelten sich zum Finale 90 000 Leute vor riesigen Leinwänden. Fußballschauen und Biertrinken kann man gut zu Hause. Aber Fremde umarmen, sich gemeinsam heiser singen, die Stadt zum riesigen Spielplatz machen - dafür muss man auf die Straßen gehen. Millionen Franzosen haben einander am Sonntag bewiesen, dass es so etwas wie ein Wir gibt. Ein ausgelassenes und stolzes Wir.

Es ist beinahe auf den Tag genau zwei Jahre her, dass ein mutmaßlicher Islamist in Nizza 86 Menschen tötete. Er fuhr einen Lastwagen in Familien und Freunde, die zusammen ein Feuerwerk anschauen wollten. Nur ein halbes Jahr zuvor, am 13. November 2015, waren Terroristen mordend durch Paris gezogen. Die Fußballmannschaft, die nun Weltmeister geworden ist, stand an jenem Abend auf dem Rasen des Stade de France und hörte, wie die Selbstmordattentäter ihre Sprengstoffgürtel zündeten. Die Schwester des gefeierten Stürmers Antoine Griezmann war im Bataclan, als dort 90 Menschen erschossen wurden. Sie überlebte. Doch die Cousine des damaligen Nationalspielers Lassana Diarra wurde von einer Kugel der Terroristen tödlich getroffen, als sie gerade einkaufen fuhr.

Jeder in Paris kann eine Geschichte darüber erzählen, wie der Terror das Leben verdunkelte und sich in den Alltag fraß. Man kann nicht genug darüber staunen, wie entschieden und gelassen sich die Franzosen gegen diese Dunkelheit stemmen. Die Islamisten haben Frankreich überall dort angegriffen, wo Menschen aller Hautfarben und Religionen zusammenfinden. Im Fußballstadion, an der Strandpromenade, in den Bars, auf einem Konzert. Sie wollen verhindern, dass in Frankreich das gilt, was heute auf die Innenseite der Nationaltrikots gedruckt ist: "Unsere Unterschiede vereinen uns". Diese schwarz-weiß-arabische Mannschaft lebt vor, was in vielen anderen Gesellschaftsbereichen eher noch Versprechen als Realität ist.

Ja, das Land hat seine Grenzkontrollen verstärkt. Ja, Marine Le Pen feiert politische Erfolge mit ihren Anti-Islam-Parolen. Und ja, die große WM-Party endete an manchen Orten mit Ausschreitungen. Doch den Millionen von friedlich feiernden Franzosen nimmt das nicht ihre Euphorie. Und den Menschen in Bondy, eigentlich bekannt als Problemviertel und nun gefeiert als Heimatort von Fan-Liebling Kylian Mbappé, nimmt das nicht ihren Stolz, dass bei ihnen einer der besten Spieler dieser WM groß geworden ist.

Es geht in diesem Freudentaumel weder um Fußball noch darum zu behaupten, dass in Frankreich alles in Ordnung sei. Es geht darum, dass man es sich nicht versauen lässt, am Leben zu sein.

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