Frankreich:Auf den Boulevards der Ignoranz

Frankreich: Alle paar Tage kommt die Polizei und bringt ein paar von ihnen in Unterkünfte für Flüchtlinge. Genau darauf hoffen viele illegale Migranten in Paris.

Alle paar Tage kommt die Polizei und bringt ein paar von ihnen in Unterkünfte für Flüchtlinge. Genau darauf hoffen viele illegale Migranten in Paris.

(Foto: Joel Saget/AFP)

In Paris leben Tausende Flüchtlinge auf den Straßen, jedermann sieht sie. Doch staatliche Stellen wollen nicht einmal wissen, wie viele es sind.

Von Christian Wernicke, Paris

Keiner zählt die Gestalten auf dem Mittelstreifen der Avenue de Flandre. Und niemanden in Paris interessiert, wie viele Männer am Boulevard de la Villette unter der Metrobrücke pennen, oder wie viele sogenannte Sans-Papiers - also Migranten ohne Pass und Papiere - gerade wieder hinter der Halle Pajol campieren. "Wir kennen keine Zahl", bescheidet die Polizei-Präfektur. Auch die Präfektur der Region, immerhin zuständig für die Notunterbringung von Flüchtlingen, gibt sich ahnungslos: "Nein, wie viele da auf der Straße leben, wissen wir nicht." Dieselbe Ahnungslosigkeit im Rathaus: "Nicht zuständig." Immerhin, eines weiß die sozialistische Stadtverwaltung: "Momentan kommen ungefähr 60 Flüchtlinge mehr jeden Tag."

Auch Pierre Henry, Direktor der Hilfsorganisation France Terre d'Asile, kann die Zahl der Schattenmenschen nicht exakt beziffern. "Momentan sind es wohl 1000 bis 2000 - zu viele auf jeden Fall!" Für Henry sind die Flüchtlinge auf den Trottoirs der Hauptstadt "ein Symptom für das Scheitern der französischen Politik". Genauso wie das inzwischen weltberüchtigte "Lager der Schande" bei Calais, das dieser Tage neue Rekordzahlen meldet: 6901 Menschen hat der Staat dort vorige Woche gezählt, Hilfsgruppen wähnen sogar 9000 Menschen auf dem Gelände einer ehemaligen Mülldeponie.

Bis zu 100 000 Flüchtlingen, so schätzt die Regierung, werden dieses Jahr nach Frankreich strömen. Also mindestens 20 000 mehr als voriges Jahr. Die meisten kommen aus Italien, via Ventimiglia und Menton. Allein im Großraum Paris hat die Präfektur zwar in den vergangenen zwölf Monaten 15 000 Gestrandete von der Straße geholt und in Notlager gebracht. Die Behörden versprechen mehr Pritschen, requirieren Sporthallen - aber die Plätze reichen nie. "Nötig wäre, dass Frankreich überall, in der Nähe von vielleicht 30 Städten, solide Auffanglager errichtet", sagt Pierre Henry, "aber dazu fehlt der Politik der Mut." In Frankreich lauern 2017 Wahlen. Der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die für Ende September zwei neue Lager versprochen hat, hält die konservative Opposition vor, sie wolle "noch mehr Migranten anlocken".

Die Flüchtlinge müssen warten, unter freiem Himmel. Wie Ibrahim Hamza, ein Mann im braunkarierten Hemd und einer zerschlissenen Jeans auf der Avenue de Flandre. Seit einem Jahr ist der 25-jährige Sudanese auf der Flucht, aus Libyen kam er übers Meer nach Europa: "Daheim ist Krieg, hier bin ich in Sicherheit - auch hier, auf der Straße." Hamza hat Glück: Es regnet nicht, und er hat diesen dicken Karton mit der Aufschrift "fragile" ergattert, in dem ein riesiger Fernseher verpackt war. Das ist sein Bett.

Hamza ist illegal im Land. Und hofft doch, dass die Polizei ihn endlich abholt: "Wir alle warten auf die nächste Razzia. Denn nur dann kriegst du einen Platz im Lager." So jedenfalls haben ihm jene erzählt, die schon länger in irgendeiner Nische des 18. und 19. Arrondissement ausharren. Nur, das kann dauern. Die Polizisten kommen zwar fast täglich - aber meist nur, um Flüchtlinge von der Straße zu scheuchen. Es sollen sich keine festen Lager, keine Strukturen bilden. Bei der jüngsten Räumung, erzählt Hamza, habe die Polizei zwar 80 junge Männer festgenommen. "Aber auf der Wache wurden nur 35 ins Lager geschickt. Ich nicht, leider."

So ging Hamza zurück auf die Avenue de Flandre. Ab und zu bringen Helfer Brot, Wasser, ein Stück Seife. Der Staat tut nichts, was Amnesty International als Verstoß gegen internationale Konventionen anprangert. Einziges Ergebnis der Razzia für Ibrahim Hamza war, dass nun zwei Seiten Papier - abgestempelt und unterschrieben von einem Polizisten - in seiner Jeanstasche stecken. Darauf steht, dass Hamza "binnen 30 Tagen" Frankreich verlassen muss. Und sein Antrag auf Asyl abgelehnt sei. Hamza sitzt verlegen auf einer Bank, er versteht das Papier nicht: "Asyl? Danach haben die mich nie gefragt."

Hamza will bleiben, hofft auf ein Dach überm Kopf: "Ich bin ein Mensch", sagt er, "Frankreich hat doch die Menschenrechte erfunden, oder?"

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