Folgen der Juncker-Kür:Der Ärmel-Graben

Angela Merkel, David Cameron

Nicht immer einer Meinung: David Cameron und Angela Merkel bei einer Sitzung in Brüssel im Oktober 2013.

(Foto: AP)

"Falsche Person, falsches Prinzip": David Cameron hat es nicht geschafft, Juncker als EU-Kommissionspräsident zu verhindern. Am Ende ging es dem Briten nur um Schadensbegrenzung. Doch trotz der Zugeständnisse an London vertieft sich die Kluft zwischen dem Kontinent und den britischen Inseln.

Von Cerstin Gammelin, Brüssel

Am Freitagmorgen lässt der britische Premier einmal mehr keinen Zweifel, wo er in der Sache steht. "Es ist ein schlechtes Prinzip und die falsche Person", sagt David Cameron auf dem roten Teppich des Ratsgebäudes in Brüssel. "Und ich denke, es ist richtig, zu seinen Überzeugungen zu stehen." Das klingt nicht sehr versöhnlich. Dabei will er jetzt gleich ein Vier-Augen-Gespräch mit Angela Merkel führen, zu dem er die deutsche Kanzlerin in das britische Delegationsbüro eingeladen hat.

Cameron hat einiges mit Merkel zu besprechen, und zwar noch vor Beginn des zweiten EU-Gipfeltages, an dem die 28 Staatspräsidenten, Premierminister und Bundeskanzler über den Kandidaten für das höchste Amt in der mächtigen Gesetzgebungsbehörde Europa entscheiden sollen. Jean-Claude Juncker, den designierten Kandidaten, wird er nicht mehr verhindern können. Zu viele seiner Kollegen hatten sich schon für den früheren Luxemburger Premier ausgesprochen, der Ende Mai als Spitzenkandidat der europäischen Christdemokraten und Christsozialen (EVP) die Europawahlen gewonnen hatte.

Für Cameron hatte ein ganz anderes Spiel begonnen. Titel: Schadensbegrenzung

Für Cameron hat am Freitag schon ein ganz anderes Spiel begonnen: Schadensbegrenzung. Noch am Tag vor dem Gipfeltreffen am Freitag in Brüssel war der Kanal zwischen dem Vereinigten Königreich und Kontinentaleuropa um einige Meter breiter geworden. Zumindest gefühlt. Merkel hatte zu Protokoll gegeben, dass es "kein Drama" sei, wenn die 28 Staats- und Regierungschefs dieses Mal - anders als früher - abstimmten. Und zwar über den Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission. Cameron hatte offen mit "Konsequenzen" gedroht für den Fall, dass der Kandidat Jean-Claude Juncker heißen würde.

So deutlich hatten Merkel und Cameron vor einem europäischen Spitzentreffen noch nie über Kreuz gelegen. Im Gegenteil. Seitdem der Sozialist François Hollande in den Elysée-Palast in Paris eingezogen war, hatten Berlin und London ein ums andere Mal bestens zusammengearbeitet. Sie schmiedeten einen Kompromiss für den großen europäischen Haushalt der Jahre 2014 bis 2020, sie beschleunigten die Verhandlungen für das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen, sie spielten über die Bande im harten Gerangel um die Bankenunion.

"Wir haben viele Dinge gemeinsam vorangetrieben", sagt ein britischer EU-Diplomat. Zufrieden seien beide Seiten gewesen. Großbritannien, weil Deutschland ein großer und zuverlässiger Partner an der britischen Seite war. Und Deutschland, weil man zusammen mit den Briten die sozialdemokratischen Regierungen in Rom und Paris im Zaum halten konnte.

Wieso die Briten enttäuscht in der Causa Juncker von den Deutschen waren

Umso überraschender kam das deutsch-britische Zerwürfnis um den früheren Premierminister Luxemburgs. In Brüssel sprachen britische Diplomaten von Enttäuschung. Man könne nicht glauben, dass die Bundesregierung wirklich dieses falsche Prinzip unterstütze, wonach der Präsident der Europäischen Kommission nur einer der Spitzenkandidaten aus den vorangegangenen Europawahlen werden könne. Damit verlören die Staats- und Regierungschefs ihr bisheriges alleiniges Vorschlagsrecht und damit wichtige Kompetenzen. Großbritannien wolle genau das Gegenteil - nämlich Kompetenzen aus Brüssel zurückholen.

World War I centenary - EU leaders commemorate outbreak of WW I

Wie bitte? Juncker?? - Wer sonst! Im Streit zwischen Angela Merkel und David Cameron (links) sucht François Hollande offenbar nach einer Eingebung.

(Foto: Julien Warnand/dpa)

Plötzlich schien es so zu sein, als sei Großbritannien doch längst auf dem Weg aus der Europäischen Union. "Vollkommen ungläubig", sagt der Regierungschef eines kleinen Landes später auf dem Brüsseler Gipfeltreffen, habe er die Eskalation verfolgt. Man habe zugeschaut und sich gewundert, erzählen EU-Diplomaten aus mehreren Ländern.

Das erste versöhnliche Zeichen, erzählen die Diplomaten, seien dann die Telefonate des britischen Premierministers mit Merkel und dem niederländischen Kollegen Mark Rutte gewesen. Am späten Mittwochabend ließ Cameron verbreiten, dass Großbritannien keinesfalls so isoliert sei, wie es den Anschein habe. Er habe Merkel und Rutte erklärt, dass er seine Meinung bezüglich Juncker nicht ändern werde. Beide hätten ihm anschließend versichert, dass sie unverändert den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union unterstützen und zusammen an einer Reformagenda arbeiten wollten, "auf deren Grundlage der Premierminister die Beziehung mit der Gemeinschaft neu verhandelt".

Unterstützung für britische Projekte: Freihandel, Liberalisierung, Reformen

Die Botschaft aus London sollte versöhnlich klingen. Auch unter demokratisch gewählten Regierungschefs gebe es eben mal Streit. Das sei doch völlig normal. Und diese Botschaft verfehlte ihre Wirkung nicht. Als Merkel am Mittag des nächsten Tages im westflämischen Kortrijk vor die Presse trat, hatte auch sie verbindliche Worte parat. "Ich denke, dass wir gute Kompromisse finden und ein Stück weit auf Großbritannien zugehen werden." Was konkret bedeutet: Man werde sich britischen Wünschen nicht verschließen, wenn die strategischen Ziele der Europäischen Union abgestimmt werden, als da wären: Freihandel, Liberalisierung, Reformen.

Ein paar Stunden später spazierten die Bundeskanzlerin und der britische Premierminister zusammen mit ihren Kollegen aus den 26 anderen europäischen Ländern über den Marktplatz der westflämischen Stadt Ypern. Hier hatten vor einhundert Jahren, im Ersten Weltkrieg, Hunderttausende Soldaten ihr Leben verloren, noch heute holen die Bauern Metallsplitter aus der Erde.

Die 28 Chefs waren nach Ypern gereist, um der Toten zu gedenken, sie pflanzten Bäumchen und besuchten das Museum. Die Nachmittagssonne strahlte, als sie sich mitten auf dem Platz zum gemeinsamen Foto aufstellten, hinter ihnen wehte ein riesiges blaues Sternenbanner vor dem wiederaufgebauten gotischen Rathaus - und dann brandete plötzlich Beifall auf. Die Bürger entlang der Absperrgitter applaudierten diesem Europa, dessen demokratisch gewählte Spitzenleute sich unter ihren Augen aufstellten.

Ohne Zweifel, berichten Diplomaten, hat die besondere Atmosphäre des historischen Platzes dazu beigetragen, dass auch der weitere Abend versöhnlich verlief. Cameron habe beim Abendessen zunächst erwähnt, dass er Juncker weiter ablehne, ohne dessen Namen überhaupt auszusprechen. Dennoch sei es selbstverständlich, dass er mit jedem Kommissionspräsidenten - "wer immer es ist" - arbeiten werde. Ob Merkel diesen Erklärungen folgte, ist nicht überliefert. Teilnehmer bemerken, dass die Kanzlerin zunächst sehr am Verlauf des Fußballspiels der deutschen Nationalmannschaft interessiert gewesen sei.

Der Streit, erzählen Diplomaten nach dem Treffen der Deutschen und des Briten am Freitagmorgen, erschüttere jedenfalls nicht das grundsätzlich gute Verhältnis der beiden großen Länder. Kein Wort der Enttäuschung mehr. Am Abend dann kündigen sowohl Merkel als auch Cameron an, dass sie das "Prinzip Spitzenkandidat" noch einmal überprüfen wollen. Bei der nächsten Wahl, so sieht es aus, wollen beide wieder ein Verfahren, bei dem die Regierungschefs allein über den Kandidaten entscheiden. So wie früher eben.

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