Flugzeug-Abschuss:Tödliches Manöver

Der russische Jet soll 17 Sekunden durch türkisches Gebiet geflogen sein, erklärt Ankara. Russland spricht von einem Hinterhalt.

Von P.-A. Krüger und M. Szymanski

Durften die türkischen Kampfpiloten das russische Flugzeug vom Typ Suchoi SU-24 überhaupt abschießen? Beantworten lässt sich diese Frage nur dann, wenn ein Streitpunkt zweifelsfrei geklärt ist zwischen Moskau und Ankara: Ist der russische Flieger am Dienstag tatsächlich in den türkischen Luftraum eingedrungen oder ist er das nicht? "Wenn ein militärisches Luftfahrzeug ohne Erlaubnis in den Luftraum eines fremden Staates einfliegt, stellt schon das einen Angriff mit militärischen Mitteln dar, der eine entsprechende Reaktion rechtfertigt, also auch den Einsatz bewaffneter Gewalt", sagte der auf Völkerrecht spezialisierte Jura-Professor Wolff Heintschel von Heinegg von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder der Süddeutschen Zeitung. Die Rechtslage sei eindeutig.

Dabei komme es nicht darauf an, ob das Flugzeug nur wenige Meter oder kilometerweit in den Luftraum eindringe. Auch die Flugrichtung und die Zeit im fremden Luftraum seien unerheblich. "Entscheidend ist nur, dass die Reaktion erfolgt, während sich das fremde Luftfahrzeug im Luftraum aufhält", also in diesem Fall der Pilot der türkischen F 16-Maschine seine Luft-Luft-Rakete abfeuerte, während sich die russische Su-24 noch über türkischem Territorium befand. Wo die Rakete am Ende den Eindringling triff und über welchem Territorium er dann zu Boden geht, spielt dagegen keine Rolle.

Die türkische und die russische Armee liefern jeweils unterschiedliche Versionen von dem, was in der Luft über dem türkisch-syrischen Grenzgebiet passierte. Als Belege präsentieren beide Überwachungsbilder mit unterschiedlichen Flugrouten (siehe Karte). Es geht um einen kleinen Zipfel der türkischen Provinz Hatay, der nach Syrien hineinragt. Jenseits der Grenze fliegen die Russen seit September Einsätze. Wiederholt kam es zu Verletzungen des türkischen Luftraums, die von russischer Seite teilweise auch eingeräumt worden sind. Ärger gab es also schon seit längerer Zeit. Die Türken behaupten, am Dienstag wären gegen 9.24 Uhr zwei SU-24 von Ost nach West über türkisches Gebiet geflogen, obwohl sie in fünf Minuten zehnmal gewarnt worden seien. Die türkischen Streitkräfte veröffentlichtem nach einem Medienbericht die Warnung an die Piloten. Die Nachrichtenagentur DHA stellte unter Berufung auf die Armee eine entsprechende Sprachaufnahme ins Internet. Auf der Aufnahme ist die mehrmalige Warnung zu hören, abzudrehen. Es soll sich dabei um den Funkspruch an die Piloten handeln. Jeweils etwa zwei Kilometer seien die Flugzeuge in den Luftraum eingedrungen - 17 Sekunden habe dieses Manöver gedauert. Eines der Flugzeug habe reagiert. Auf die zweite SU-24 sei gefeuert worden, als die Maschine sich noch über türkischem Boden befunden habe. Nach dieser Version hätten die Türken das Recht zum Abschuss gehabt. Die Russen erzählen aber eine andere: Deren Karten zeigen, wie der Pilot einen Bogen um die türkische Südspitze geflogen sei. Zu keinem Zeitpunkt habe das Flugzeug die türkischen Grenze überflogen. Einen Kilometer davon entfernt sei die Maschine von einer Luft-Luft-Rakete getroffen worden. Vier Kilometer entfernt befindet sich die Absturzstelle in einem Waldgebiet.

Nach russischer Darstellung trifft es auch nicht zu, dass die Besatzungen gewarnt worden seien. "Dies war ganz offensichtlich ein Hinterhalt: Sie warteten, beobachteten und haben einen Vorwand gesucht", sagte der russischen Außenminister Sergej Lawrow am Mittwoch.

Nato und US-Militär stützen die türkische Variante. US-Präsident Barack Obama betonte das Recht der Türkei, sich zu verteidigen. Er hatte mit Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan telefoniert. Seitdem die Türkei ihren strategisch gut gelegenen Luftwaffenstützpunkt Incirlik für US-Jets geöffnet hat, kooperiert man enger im Kampf gegen die Terror-Milizen des sogenannten "Islamischen Staates".

Aktuelles Lexikon: Dolchstoß

Der Dolchstoß ist wieder da. Der Ausdruck dafür, dass jemand von hinten, oft heimtückisch, erstochen wird, hält sich besonders in Deutschland hartnäckig, zumal seit dem Jahr 1918. Und darum wurde auch die empörte Reaktion von Russlands Präsident Wladimir Putin auf den Abschuss eines Kampfflugzeugs durch die Türken sofort von den Agenturen als "Dolchstoß", den "Verbündete von Terroristen" ausgeführt hätten, gekennzeichnet, obwohl er wörtlich eigentlich nur von einem "Stoß in den Rücken" gesprochen hatte. So oder so, was gemeint ist, ist Verrat. Gerne werden komplexe Zusammenhänge in schwierigen Zeiten mit dem rabiaten Kampfbegriff vom Dolchstoß simplifiziert und für die eigene Propaganda nutzbar gemacht. So war es auch beim Umsturz am Ende des Ersten Weltkriegs. Nach Kapitulation, demokratischer Revolution und harten Friedensbedingungen schoben der frühere Feldmarschall Paul von Hindenburg und reaktionäre Kreise die für Militärangehörige längst absehbare Niederlage den Friedensbemühungen der demokratischen Parteien und den seit 1917 immer wieder streikenden Munitionsarbeitern zu. Das Heer sei quasi unbesiegt "von hinten erdolcht" worden. Solche Aussagen einer Führungsautorität glaubten die rechts-nationalistischen Kreise gerne - die Dolchstoßlegende war einer der vielen Gründe für den Untergang der Weimarer Republik. Robert Probst

Gegen die Darstellung der Russen spricht, dass sie in der Vergangenheit nachweislich fremden Luftraum nicht immer respektiert haben. Wirklich Klarheit könnte wohl nur eine unabhängige Untersuchung schaffen.

Gewissheit herrscht nun offenbar über das Schicksal der beiden Piloten des abgeschossenen Flugzeugs. Sie konnten sich zunächst mit Fallschirmen aus dem brennenden Jet retten. Das russische Militär berichtet, dass sie dann aber vom Boden aus beschossen worden seien. Einer der Piloten kam dabei ums Leben. Anders als von Rebellengruppen behauptet, überlebte der zweite Soldat. Er befinde sich auf einer russischen Basis südlich von Latakia.

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