Flüchtlingstragödie:Italiens verzweifelter Kampf gegen Schlepperbanden

Migrants shipwreck press conference

Pokert hoch, und gewinnt: Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi will mit einer Wahlrechtsreform die Regierbarkeit des Landes verbessern.

(Foto: Angelo Carconi/dpa)
  • Von Libyen aus legen die meisten Flüchtlingsboote in Richtung Europa ab. Seit dem Sturz des libyschen Machthabers Gaddafi herrscht in dem Land Chaos.
  • Die italienische Regierung fordert internationale Marine-Einsätze, um die Schlepperbanden anzugreifen und die Boote zu zerstören.
  • Italienischen Medien zufolge sind die Behörden in dem Land sehr genau informiert über die Banden. Offenbar existieren enge Kontakte mit Komplizen in Italien.
  • In Libyen warten schätzungsweise eine Million Menschen auf die Überfahrt nach Italien.

Von Oliver Meiler

Gewisse Zahlen sind so ungeheuerlich, dass sie die Kategorien des Denkens sprengen. 700, vielleicht sogar mehr als 900 Menschen ertranken am Wochenende auf ihrer Flucht nach Europa, im Mittelmeer, nur sechzig Seemeilen vor der libyschen Küste. Eingepfercht, gefangen auf einem übervollen, gekenterten Boot.

Wie viele es genau waren, wird man wohl nie erfahren. Wahrscheinlich wird auch ihre Identität und ihre Herkunft nie bekannt werden. Die Schlepper hatten die Flüchtlinge mit Waffengewalt an Bord gedrängt, viele von ihnen unters Deck, in den Bauch des Schiffes, und haben dann die Türe zum Laderaum abgeriegelt. Einer der wenigen Überlebenden erzählte nach seiner Rettung: "Es war klar, dass es nicht genügend Platz für uns alle gab." Es seien auch 40 oder 50 Kinder an Bord gewesen und 200 Frauen, 950 insgesamt.

Als die Hilfsschiffe am Unglücksort ankamen, war alles ruhig, still. Das Mittelmeer ist besonders tief an jener Stelle. Es hat die Flüchtlinge verschlungen, so viele auf einmal wie nie zuvor. Nur 28 überlebten.

Italien klagt, es werde mit dem Flüchtlingsstrom alleingelassen

Der Schriftsteller Claudio Magris schreibt im Corriere della Sera von einem "Crescendo des Horrors", dem man beiwohne, Tag für Tag. Auch diese Formel drückt vor allem die Ohnmacht über die Ungeheuerlichkeit aus. Und über die vermeintliche Ohnmacht schlechthin im Umgang mit dem Phänomen der Flucht, der Tragödien, der kriminellen Banden, von dem man annimmt, dass es in den nächsten Monaten noch viel massiver werden wird. Und ohne dass sich eine Politik abzeichnete, die dem Drama ein Ende setzen könnte. "Das Meer", sagt Italiens Premier Matteo Renzi, "ist eine hässliche Bestie. Militärisch werden wir sie nie ganz kontrollieren können." Aber wenigstens besser, um weitere Katastrophen zu verhindern?

Italien klagt seit geraumer Zeit, dass die Partnerstaaten in Europa es mit der Verwaltung des Flüchtlingsstroms von den südlichen Gestaden des Mittelmeers alleinlasse. Und dass dieser Strom solang nicht abnehmen werde, solang Libyen, wo die meisten Schaluppen der Verzweiflung ablegen, im politischen Chaos und in Anarchie verharre, seine Küsten nicht kontrolliere, die Menschenschmuggler fast frei gewähren lasse. An eine schnelle Stabilisierung Libyens glaubt niemand. Allzu fruchtlos verliefen dafür bislang die internationalen Vermittlungen für die Einsetzung einer Regierung der nationalen Einheit.

Marine soll Schlepperboote zerstören

Darum fordert die italienische Regierung die internationale Gemeinschaft nun dazu auf, möglichst alles daranzusetzen, die Schlepper zu bekämpfen, sie an ihrem skrupellosen Treiben zu hindern. Und das möglichst schnell. Die Rede ist von punktuellen Einsätzen der Marine gegen deren Netz und deren Transportmittel, um das Geschäft zu zerstören und weitere Tragödien zu unterbinden. Schlepperbanden, sagen die Italiener, seien wie die Mafia. Und da kennt man sich schließlich aus.

Wie genau der rechtliche Rahmen für eine solche Intervention aussähe, ist noch nicht klar. Eine militärische Aktion im eigentlichen Sinn scheint ausgeschlossen zu sein, weil sich sonst Libyen in seiner Souveränität verletzt sähe. Wahrscheinlicher sind gezielte Schläge gegen die Banden, vielleicht auch die Zerstörung der Boote, die da in den Häfen bereitliegen. Renzi telefoniert mit allen europäischen Hauptstädten, wirbt für den Plan.

Die Geheimdienste wissen ziemlich genau darüber Bescheid, was sich in Libyen abspielt

Vergangene Woche war er dafür bei Barack Obama. Am liebsten wäre es Italien und dem kleinen Malta, das geografisch ähnlich exponiert ist wie das Nachbarland, wenn die Operation eingebettet wäre in ein Mandat der Vereinten Nationen und unterstützt würde von der Europäischen Union.

Glaubt man den italienischen Zeitungen, dann wissen die nationalen Geheimdienste genau Bescheid über die Banden und Milizen, über deren Köpfe und Komplizen im Ausland, über die Bootsplätze und Ablegehäfen im Westen Libyens, zwischen Zuwara und Zawiya, zwischen Khoms und Misrata.

Offenbar geht das Wissen so weit, dass die Italiener über die Handynummern der Bosse verfügen. Und mit jeder Razzia unter den Verbindungsleuten in Italien erfahren sie mehr. Am vergangenen Sonntag nahm die italienische Polizei auf Anordnung der Staatsanwaltschaft von Palermo 24 Personen fest, die "wie eine Reiseagentur" für Migranten gearbeitet haben soll, all inclusive gewissermaßen: vom Ursprungsort der Flucht in Afrika oder im Nahen Osten über Libyen, Italien und bis nach Deutschland, Holland, Schweden, Norwegen. Die Ermittler haben die Geldströme verfolgt. Sie verdächtigen die Gruppe, eine kriminelle Organisation gebildet zu haben, um Profit zu schlagen aus der illegalen Einwanderung. Mafia eben. Es drohen ihnen Haftstrafen bis zu neun Jahren.

Eine Million Menschen wartet in Libyen auf die Reise übers Mittelmeer

Die Staatsanwaltschaft von Palermo glaubt auch zu wissen, dass in Libyen eine Million Flüchtlinge nur darauf warten, ihr Glück zu versuchen. Trotz allem, trotz allen Unglücks, trotz der Todesgefahren auf hoher See. Einfach nur weg aus Libyen, vom Bürgerkrieg, von den Wirren, der Erniedrigung.

Weg wollen nicht nur die Flüchtlinge aus Syrien, Somalia und Eritrea, die Libyen als Transitstation nutzen. Weg wollen auch Menschen aus Westafrika und Asien, die seit vielen Jahren im Land leben, vor allem als Hilfsarbeiter und Haushaltshilfen, und die seit dem Sturz des Regimes von Muammar al-Gaddafi kein Auskommen mehr haben. Libyen ist für viele von ihnen die Hölle geworden. Besonders prekär sollen die Zustände in den völlig überbelegten Auffanglagern für Flüchtlinge sein, die nach Berichten von Augenzeugen wie Haftanstalten geführt werden. Die sanitären Anlagen sollen desaströs sein, menschenunwürdig. Gewalt, Gängelung und Folter seien alltäglich. Und so legen die Flüchtlinge ihr Schicksal in die Hände von Schleppern, von denen sie sehr wohl wissen, dass denen nicht an ihrem Wohl gelegen ist. Nur an ihrem Geld.

Die Flucht über die Straße von Sizilien ist die billigste, die Low-Cost-Variante auf dem Weg nach Europa. Sie ist die riskanteste, weil die Schleuser die Flüchtlinge wie Ware in viel zu kleine, oft gar nicht seetüchtige Boote zwängen. 1000 Euro kostet ein Platz im tödlichen Gedränge, Kinder zahlen weniger. Je mehr Passagiere auf ein Boot gehen, desto größer ist der Erlös. Die Flüchtlinge warten oft tagelang auf einen Anruf der Banden. Wenn der Ruf kommt, muss es ganz schnell gehen. Sie werden zu einem Ablegeplatz an einem verlassenen Strand gelotst, meist in der Nacht. Wer zögert, der wird mit Gewalt auf das Boot geführt.

Vor dem Besteigen des Schiffes müssen die Flüchtlinge ihre Handys abgeben. Damit sie nicht um Hilfe rufen können, damit sich im Zweifel ihre Spur verwischt. Nicht selten für immer.

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