Flüchtlingspolitik:Lehren aus Lampedusa

Flüchtlingspolitik: Asyl- und Flüchtlingspolitik nach Lampedusa: Helfer bringen den Sarg eines Kindes in Sizilien an Land.

Asyl- und Flüchtlingspolitik nach Lampedusa: Helfer bringen den Sarg eines Kindes in Sizilien an Land.

(Foto: AFP)

Europa darf die Bootsflüchtlinge im Mittelmeer nicht ertrinken lassen. Aber ist es vertretbar, den Entwicklungsländern durch selektive Einwanderungspolitik ihre gut ausgebildeten Eliten zu nehmen? Europa sollte nicht zur Flucht ermuntern, sondern die Armut in den Krisenländern bekämpfen.

Ein Gastbeitrag von Günther Beckstein

Das Elend der Bootsflüchtlinge wird jeden Menschen erschüttern. Auch wenn die Seenot oft bewusst herbeigeführt wird, um die Aufnahme zu erzwingen, oder Schlepperbanden alte, nicht für die hohe See tüchtige Boote überladen, muss die EU alles tun, dass Menschen nicht einfach ertrinken. Es ist deshalb richtig, wenn die europäischen Grenzschutzbehörden Frontex auch die Aufgabe bekommen, Schiffbrüchige zu retten, wenn Eurosur eingerichtet wird, um die Überwachung des Mittelmeeres zu verbessern, auch, um im Falle der Seenot schnell helfen zu können. Und selbstverständlich muss das italienische Bossi-Fini-Gesetz so geändert werden, dass nicht Fischer bestraft werden, die Menschen aus Seenot aufnehmen und in sichere italienische Häfen bringen. Sie müssen im Gegenteil zur Hilfe ermuntert werden.

Der Staat, der dem humanen Menschenbild verpflichtet ist, darf den verzweifelten Selbstmörder nicht einfach von der Brücke springen lassen, er muss sein Leben zu retten versuchen. Dies gilt erst recht für die Flüchtlinge, die der Armut und dem Elend Afrikas in Richtung EU entfliehen wollen. Aber muss man nun auch den Kurs der Einwanderungspolitik radikal ändern?

Ist es also tatsächlich richtig, dass die ganze EU Einwanderung braucht? Ist es sinnvoll, auf Spanien, Portugal, Griechenland mit ihrer hohen Arbeitslosigkeit weitere Menschen zu verteilen? Wollen die Flüchtlinge aus Afrika tatsächlich nur irgendwo hin in die EU? Werden sie zufrieden in Bulgarien, Rumänien oder Lettland bleiben, wenn sie dorthin geschickt werden? Und wenn Deutschland qualifizierte Zuwanderer braucht - sind dann gerade unter den Schiffbrüchigen aus dem Mittelmeer diese benötigten Fachkräfte?

Moralisch richtig, Afrika die Ärzte zu nehmen?

Alle diese Fragen beantworte ich mit einem klaren Nein. Es gibt sicher auch qualifizierte Fachkräfte unter den verzweifelten Armutsflüchtlingen. Doch wer die Chance auf eine amerikanische Greencard hat, wird nicht einem Schlepper Tausende von Euro geben, und sich der Todesgefahr aussetzen. Wie viele kommen schon auf dem Marsch durch die Sahara ums Leben? Und würden, gäbe es ein Einwanderungsbüro zum Beispiel in Libyen, alle dort vorsprechenden Flüchtlinge die Aufnahme in die EU erhalten können? Ich meine: nein. Und werden dann nicht diejenigen, die dort abgelehnt werden, erst recht einen Schleuser suchen?

Ich glaube, dass allein durch die Hoffnung auf legale Aufnahme in die EU für Menschen in Afrika noch größere Anreize geschaffen werden, durch die Sahara nach Nordafrika zu fliehen. Dann wäre es schon sinnvoller, die Einwanderungsbüros in den Herkunftsländern südlich der Sahara zu öffnen. Und was geschieht mit den vielen, die dort keine Chance erhalten? Sicher wären auch einige Ausreisewillige dabei, die wir in Europa beschäftigen könnten. Aber ist es ethisch richtig, diesen armen Ländern gerade die Menschen abzunehmen, die als Ärzte oder qualifiziert Ausgebildete die Voraussetzung schaffen können, dass es in diesen Ländern aufwärtsgeht?

Ich meine: Die Entwicklung einer Einwanderungspolitik muss von Land zu Land unterschiedlich sein. Ein Land, das unter Massenarbeitslosigkeit leidet, muss anders handeln als eins, das über Arbeitskräftemangel klagt. Daher muss der Bedarf in Deutschland analysiert werden. Aber auch, ob es verantwortet werden kann, den Herkunftsländern gerade die gut ausgebildeten Menschen zu entziehen. So halte ich es für unverantwortlich, trotz des Ärztemangels in Deutschland Ärzte aus afrikanischen Ländern abzuwerben, wo häufig für 50.000 Menschen nur ein Arzt zur Verfügung steht. Und auch die Frage der Integration muss besser als einst bei der Anwerbung der Gastarbeiter berücksichtigt werden.

Deutsche Sozialhilfe löst nicht das Elend der Welt

Aber wie das Elend der Flüchtlinge angehen? Es muss der mühsame, langwierige und teure Weg beschritten werden, die Lage in den Herkunftsländern zu verbessern. Damit kann sich dann auch die Lage der wirklich Ärmsten verbessern, denn wer die teuren Schlepper bezahlt, hat es in der Regel noch viel besser als der einfache Dorfbewohner, der sich seinem Schicksal ergibt.

Und noch ein Argument, das mir durch den Kopf geht: Es ist richtig, dass die Einwanderung auch Unqualifizierter in den USA relativ großzügig toleriert wird. Aber dort wird diesen armen Menschen keine Sozialhilfe und keine ordentliche Gesundheitsversorgung gewährt. Viele arbeiten und leben unter Umständen, die mit prekären Verhältnissen noch beschönigend bezeichnet sind. Wir wollen aber in Deutschland nicht Menschen in unwürdigen Lebenslagen alleinlassen. Selbst der abgelehnte Asylbewerber bekommt die Unterstützung des nach deutschen Kriterien berechneten Existenzminimums. Nach UN-Kriterien ist demgegenüber der als wirklich arm zu bezeichnen, der pro Tag weniger als einen Euro je Tag zur Verfügung hat.

Wir können nicht mit der Sozialhilfe in Deutschland das Elend der Menschen in der Welt angehen. Nach den Armutskriterien der UN sind mehr als 800 Millionen Menschen arm. Wir werden nicht einmal mit der deutschen Sozialhilfe die Armut in allen EU-Ländern bekämpfen können. Die Probleme werden sich in deutschen Städten in den nächsten Jahren zuspitzen, wenn die volle Freizügigkeit mit Bulgarien, Rumänien, dem Kosovo und Albanien hergestellt wird.

Gentechnik darf nicht verteufelt werden

Humanität erfordert deshalb große Anstrengungen in der EU und in Europa, die Lebensverhältnisse, zum Beispiel der Roma in Bulgarien zu verbessern. Dafür muss viel Geld eingesetzt werden, auch von Deutschland - vor allem aber müssen wir uns dafür einsetzen, dass sich die rechtliche Lage der Roma verbessert.

Und Afrika darf nicht der vergessene Kontinent bleiben. Gerade in den Ländern südlich der Sahara muss alles daran gesetzt werden, die Wirtschaft, insbesondere die Landwirtschaft so zu verbessern, dass alle Menschen eine Lebensperspektive ohne Hunger und Elend und die Chance auf sozialen Aufstieg haben. Dazu ist es, auch im Hinblick auf den Klimawandel, wohl nötig, auch gentechnisch veränderte Pflanzen, die mit weniger Wasser auskommen, den Menschen verfügbar zu machen. Wir dürfen die Menschen nicht in die Abhängigkeit von Konzernen bringen, aber die Gentechnik darf auch nicht insgesamt verteufelt werden. Und es müssen Regelungen mit Ländern wie Saudi-Arabien und China getroffen werden, die große Mengen an landwirtschaftlichen Flächen in Afrika aufkaufen, um für ihre Bevölkerung Lebensmittel zu sichern.

Es ist deshalb wirkliche Hilfe notwendig - tatsächlich, um Not zu wenden. Und nicht Symbolpolitik, sei sie nun gut gemeint oder nur populistisch.

Der Jurist und CSU-Politiker Günther Beckstein, 69, war in Bayern Innenminister und Ministerpräsident. Er ist Vizepräses der Synode der Evangelischen Kirche in Deuschland.

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