Flüchtlingspolitik:Wie der neunte Gipfel zum Erfolg führen könnte

Flüchtlingspolitik: Der Regenschutz ist ebenso improvisiert wie das gesamte Camp: ein Kind im griechischen Flüchtlingslager Idomeni.

Der Regenschutz ist ebenso improvisiert wie das gesamte Camp: ein Kind im griechischen Flüchtlingslager Idomeni.

(Foto: Vadim Ghirda/AP)
  • Der von Merkel betriebene Deal mit Ankara sieht vor, dass die Türkei neu ankommende Flüchtlinge zurücknimmt und im Gegenzug syrische Flüchtlinge in die EU schicken kann.
  • Das bedeutet, dass auch Flüchtlinge, die womöglich Anspruch auf Schutz haben, zurück in die Türkei gebracht werden sollen.
  • Vor allem Griechenland braucht extrem schnell und umfangreich Hilfe.
  • Ebenso wichtige Voraussetzung: Die Türkei muss den Flüchtlingen tatsächlich Schutz bieten.

Von Daniel Brössler und Thomas Kirchner, Brüssel

Acht Mal. Acht Mal haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union seit April 2015 auf Gipfeln und Sondergipfeln versucht, die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen. Bei Gipfel Nummer sechs, im Dezember 2015, suchte Kanzlerin Angela Merkel Trost in der Exponentialkurve. Die beginne ja "sehr, sehr langsam" und steige dann steil. Tut sie das nun? Bringt Gipfel Nummer neun den entscheidenden Fortschritt? Es hängt eine Menge davon ab, für Europa und für Merkel.

"Wir müssen zeigen, dass Solidarität nicht nur ein Wort ist, sondern etwas, wozu die Europäer fähig sind", appellierte der Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, am Mittwoch. Im Zentrum des Gipfels steht allerdings weniger die innereuropäische Solidarität als der maßgeblich von Merkel betriebene Deal mit der Türkei. Er liegt seit dem EU-Türkei-Gipfel vergangene Woche auf dem Tisch und sieht im Kern vor, dass die Türkei neu auf den griechischen Inseln ankommende Flüchtlinge zurücknimmt und im Gegenzug syrische Flüchtlinge auf legalem Wege in die EU schicken kann. Das soll den Schmugglern das Handwerk legen.

Läuft alles nach Plan, stimmen die Staats- und Regierungschefs dem Deal am Donnerstag beim Abendessen zu, um ihn dann am Freitag beim Frühstück mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu zu besiegeln. "Es liegen immer noch Schwierigkeiten vor uns", warnte ein hochrangiger EU-Beamter - was eine Untertreibung ist. Da ist zunächst die Frage, ob alle EU-Staaten bereit sind, die von Ankara geforderten Gegenleistungen zu gewähren. Ein Reizthema ist die Visafreiheit. Die Türkei will die Verhandlungen beschleunigen und rasch alle 72 von der EU gestellten Bedingungen erfüllen, sodass die Visafreiheit schon Ende Juni steht. Unter der Prämisse, dass es keinen Rabatt gibt, wollen sich selbst die besonders skeptischen Franzosen darauf einlassen.

Wer nicht schutzberechtigt ist, muss zurück

Als brisanter könnte sich die Zypern-Frage erweisen. Die Insel-Republik könnte sich gegen die Eröffnung weiterer Kapitel in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sperren. EU-Ratspräsident Donald Tusk reiste am Dienstag nach Nikosia, um die Zyprer ins Boot zu holen. Auf keinen Fall sollen die Gespräche über eine Wiedervereinigung mit dem türkischen Landesteil gefährdet werden, vielmehr bringen die Verhandlungen über den EU-Türkei-Deal nun idealerweise auch die Wiedervereinigung voran. Wenn es schiefgeht, könnte auch das Gegenteil passieren.

Am gefährlichsten aber sind wohl die Fallstricke im Deal selbst. Immerhin sollen Flüchtlinge, die womöglich Anspruch auf Schutz haben, zurück in die Türkei gebracht werden. Wie will die EU verhindern, dass der Deal schon am Montag nach der ersten Eilanordnung eines europäischen Gerichts zusammenbricht? "Das Ziel ist nicht, alle Migranten von Europa fernzuhalten", betont Timmermans, "sondern die irregulären Elemente wegzunehmen." Das bisherige Modell, von dem nur die Schleuser profitiert hätten, müsse beendet werden. Hilfsbedürftige sollen also weiterhin Schutz erhalten, nur eben erst einmal nicht mehr in der EU, sondern vorübergehend in der Türkei.

Diesem Zweck soll zunächst der Eins-zu-eins-Mechanismus dienen. Flüchtlinge, die noch in Griechenland ankommen, werden registriert, ihr Antrag auf Asyl wird entgegengenommen. Wer nicht schutzberechtigt ist, muss zurück. Hier greift die Asylverfahrensrichtlinie der EU. Sie eröffnet in Artikel 38 den Weg, den Antrag von Flüchtlingen dann abzuweisen, wenn sie aus einem "sicheren Drittstaat" in die EU gekommen sind. Als solchen wird Griechenland die Türkei nun anerkennen, dürfte sie dann also dorthin zurückschicken.

Auch bei Schutzberechtigten, also etwa den Syrern, greift Artikel 38; alternativ wäre, falls der Betreffende schon um Schutz in der Türkei nachgesucht hatte, Artikel 35 anzuwenden, in dem es um den Begriff des "ersten Asylstaats" geht, in dem der Antragsteller schon als Flüchtling anerkannt wurde. Voraussetzung ist in jedem Fall, dass Flüchtlinge in Griechenland einzeln nach ihren Umständen befragt werden und dass sie eine Revisionsinstanz anrufen können, bevor man sie abschieben darf.

Ziel ist die Abschreckung

Während dieser Zeit - in EU-Kreisen ist optimistisch von "einer Woche" die Rede - müssen die Flüchtlinge untergebracht und versorgt werden, sollten aber auch nicht abtauchen können. Für all dies braucht Griechenland extrem schnell und umfangreich Hilfe, etwa durch den weiteren Ausbau der Hotspots, Transportkapazitäten und durch zusätzliche Asylbeamte. Auch muss die griechische Rechtsprechung noch entsprechend geändert werden. "Das ist ein enormer technischer und logistischer Aufwand", sagt ein EU-Diplomat, "das kann Griechenland gar nicht allein stemmen."

Zweite, ebenso wichtige Voraussetzung: Die Türkei muss den Flüchtlingen tatsächlich Schutz "gemäß internationalen Standards" bieten, also ein humanes, ordentliches Asylverfahren, Garantien gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. Einiges hat das Land durch ein Asylgesetz im Jahr 2013 umgesetzt; weitere Punkte wiederum sind Teil der 72 Bedingungen für die Visaliberalisierung. Hier hätte die Türkei ein großes Eigeninteresse, schnell und umfassend das Nötige zu tun, sagen Diplomaten.

Die Reise übers Meer soll sich nicht mehr lohnen

Das Eins-zu-eins-Verfahren (für jeden aus Griechenland zurückgeschickten Syrer nimmt die EU einen anderen Syrer aus der Türkei auf) soll nur vorübergehend angewendet werden, eine Ausnahme sein. Die Hoffnung ist, dass diese Periode recht kurz ist, weil die Flüchtlinge und die Schleuser rasch merken würden, dass sich der Weg nach Griechenland nicht mehr lohnt. Es ist also auch ein Abschreckungsverfahren. Wer nimmt wie viele? Geplant ist, auf bestehende Kontingente zurückzugreifen: Aus einem Umsiedlungsbeschluss von vergangenem Jahr sind noch 18 000 von 22 000 Plätzen frei. Sollte das nicht reichen, könnten die 54 000 Plätze, die mal für die Umverteilung aus Ungarn vorgesehen waren, umgewidmet werden.

Ist die illegale Migration in die EU erst mal gestoppt, werde, so die Hoffnung einiger Diplomaten, die Bereitschaft auch bei den Zögernden steigen, der Türkei in großem Stil Flüchtlinge auf humanitärem Wege abzunehmen. Ganz freiwillig. Merkel wird daher keine Garantien mit heim nehmen können, dass die Lasten fair verteilt werden. Sollte der Deal mit der Türkei aber funktionieren und die Zahl illegal aus der Türkei kommender Flüchtlinge drastisch sinken, werde es eine hohe Bereitschaft geben, sich an der freiwilligen Aufnahme zu beteiligen, wird in Brüssel prophezeit.

Auf paradoxe Weise könnten die in der Flüchtlingskrise verfeindeten Lager bei diesem neunten Gipfel zusammenfinden. Auf der einen Seite steht Merkel, die über ein knappes Jahr einen beispiellosen Verlust an Macht und Ansehen im Kreis der Staats- und Regierungschefs hat hinnehmen müssen. Schon im April 2015 hatte sie - noch vor dem großen Treck nach Deutschland - "ganz deutlich" gefordert, dass sich an "Hilfe für Staaten, in denen sehr viele Flüchtlinge ankommen, perspektivisch alle beteiligen". Später verständigte man sich auf die Verteilung von gerade einmal 160 000 Flüchtlingen, aus der bisher in der Praxis so gut wie nichts geworden ist. Die Idee eines permanenten Verteilmechanismus musste wegen Widerstands von fast allen Seiten begraben werden.

Solange der Flüchtlingsstrom nicht gebremst sei, argumentierten Merkels Widersacher stets, sei Verteilung keine Lösung. Nun, da - gegen Merkels Willen - durch die Blockade der Balkanroute die Zahl der in Westeuropa ankommenden Flüchtlinge gesunken ist, kehrt auch die Bereitschaft zurück, die Lasten zu teilen - auch die des Türkei-Deals. Zweifel aber, dass die Krise auf diese Weise nachhaltig entschärft werden kann, bleiben. "Vor einem Jahr haben wir uns auf die zentrale Mittelmeerroute konzentriert. In einem Jahr könnte es eine ganz andere Route sein", sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Es müsse neben der Türkei auch mit anderen Herkunfts- und Transitländern gearbeitet werden.

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