Flüchtlingspolitik:Europas offene Flanke

Lampedusa

Sehnsuchtsort: Um nach Europa zu kommen, begeben sich viele Flüchtlinge wie diese drei in Lampedusa in Lebensgefahr.

(Foto: Filippo Monteforte/AFP)
  • Immer mehr Flüchtlinge versuchen nach Europa zu kommen. Alleine im Januar 2015 zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Deutschland 72 Prozent mehr Asylanträge als ein Jahr zuvor.
  • 2014 starben mindestens 3500 Menschen bei der Fahrt übers Mittelmeer. Doch die Operation "Triton" der EU-Grenzschutzagentur Frontex ist nicht auf deren Rettung ausgelegt.
  • Kritiker werfen der EU vor, Flüchtlinge mit den Maßnahmen zu Grenzsicherung in die Hände von Schleppern zu treiben.

Von Andrea Bachstein und Javier Cáceres, Brüssel

4300 Bootsflüchtlinge kamen im Februar über das Mittelmeer nach Italien, meldet die UN-Migrations-Organisation IOM, außerdem würden Schleuser Flüchtlinge immer brutaler behandeln. Selbst italienische Küstenwachleute seien mit Kalaschnikows bedroht worden. Auf der Hauptroute nahmen 2014 etwa 160 000 Menschen den Weg übers Mittelmeer. Und nicht nur auf der gefährlichsten Route nach Europa werden es mehr. Menschen fliehen aus allen Richtungen, aus Afrika, Nahost, Russland, vom Balkan. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zählte Ende Januar 25 042 Asylanträge, 72 Prozent mehr als ein Jahr zuvor.

2014 starben mindestens 3500 Menschen bei der Fahrt übers Mittelmeer, am 10. Februar kamen wieder mehr als 300 vor der italienischen Küste ums Leben. Was tut Europa, um solches Sterben zu verhindern?

Im Oktober 2013 war von Solidarität die Rede

Zuständig in Brüssel ist der Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, Dimitris Avramopoulos. Neuerdings kümmern sich zudem Außenkommissarin Federica Mogherini und Vizepräsident Frans Timmermans um das Thema. Von Avramopoulos war bisher wenig zu hören. Kürzlich gab er die erste wirkliche Pressekonferenz seit Amtsantritt. Er gestand ein: Solidarität sei bisher nur ein Slogan gewesen, die Flüchtlingszahlen steigen, die EU brauche eine bessere Migrationspolitik.

Von Solidarität war im Oktober 2013 viel die Rede, als vor der sizilianischen Insel Lampedusa mindestens 360 Flüchtlinge umkamen. Das dürfe sich nicht wiederholen, bekundeten Politiker. José Manuel Barroso, damals Kommissionspräsident, eilte auf die Insel und sagte: "Der Notstand von Lampedusa ist ein europäischer, Europa kann sich nicht abwenden." Es müsse denen Hoffnung gegeben werden, die vor Kriegen fliehen. Die EU-Kommission beauftragte eine Task Force, Konzepte zu erarbeiten.

Auf Mare Nostrum folgte Triton, aber die Mission hat viel weniger Geld

Italien reagierte damals mit der Rettungsoperation "Mare Nostrum". Von 18.10.2013 an setzte es seine Marine zusätzlich ein - Fregatten, ein Landungsschiff, U-Boote, die in internationalen Gewässern operierten, Flüchtlingen entgegenfuhren und mehr als 100 000 aufnahmen. Die Kosten von 9,5 Millionen Euro im Monat wurden Rom schnell zu viel, auch die EU-Partner wollten die Aktion bald nicht mehr. "Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen", sagte Innenminister Thomas de Maizière. Am 1. 11.2014 lief Mare Nostrum aus.

Es folgte die Operation "Triton" der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Monatsetat 2,9 Millionen Euro. Triton sucht nicht Flüchtlinge, sondern hilft Italien beim Grenzschutz. Bisher sieht es nicht so aus, als schrecke Triton Flüchtlinge ab. Acht Schiffe, kleiner als die der italienischen Marine, zwei Flugzeuge und ein Hubschrauber überwachen die 30-Seemeilen-Zone um EU-Grenzen. Ausstattung und Auftrag seien von der Politik so gewollt, sagt Frontex-Sprecherin Ewa Moncure.

Frontex könne nicht selbst sein Mandat verändern, sei aber offen für eine Ausweitung. Dass mit Triton Flüchtlinge ihrem Schicksal überlassen blieben, weist Moncure zurück. Zu Rettungen fahren auch Triton-Schiffe weit in internationale Gewässer, bis zu 40 Seemeilen vor Libyen.

Das Innenministerium verweist darauf, dass seit Beginn von Triton 18 000 Migranten aus Seenot geholt und 59 Schleuser festgenommen worden seien. Aber ist Triton nach 300 Toten eine angemessene Antwort Europas? Dazu das Ministerium: "Für einen mit Mare Nostrum vergleichbaren Einsatz zur Seenotrettung fehlen Frontex sowohl das Mandat als auch die Einsatzmittel." Der Etat sei 2015 um 20 Millionen Euro erhöht worden.

Es geht nicht um Rettung

UN-Flüchtlings-Hochkommissar António Guterres verlangt dagegen eine groß angelegte EU-Operation zur Seenotrettung. Nur so könnten weitere Tragödien verhindert werden. Nach Ansicht von Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl, trägt der Bundesinnenminister Mitverantwortung für das Sterben auf dem Mittelmeer, weil er das Ende von Mare Nostrum gewollt habe.

Dessen Ministerium sagt, Europa müsse "mehr tun, um zu verhindern, dass Migranten und Flüchtlinge bei der Überquerung des Mittelmeers zu Tode kommen". Das sei auch eine Frage der europäischen Werte. Entwicklungshilfe, Kooperationen, Unterstützung der Afrikanischen Union sollten Fluchtursachen eindämmen. Das alles hilft, wenn überhaupt, erst auf lange Sicht. Die akute Not im Mittelmeer lindert es nicht.

Aber es ist die Linie der EU. Am 10. Oktober 2014 beschlossen die EU-Justiz- und Innenminister "Maßnahmen zur verbesserten Steuerung von Migrationsströmen". Es ging um Grenzsicherung und Prävention, nicht um Rettung auf dem Meer. In außereuropäischen Transitländern sollen mit Beteiligung von UNHCR oder IOM Zentren entstehen, "um Maßnahmen zur Entwicklung neuer und vertiefter regionaler Entwicklungs- und Schutzprogramme für Nordafrika, Neuansiedlung auf freiwilliger Grundlage und Rückkehrmaßnahmen der EU kohärent umzusetzen", erläutert das Innenministerium. Es gehe "nicht um Abschottung der EU". Die Zentren sollen auch über Möglichkeiten informieren, auf legale Weise einzuwandern.

Ein Land wie Libyen fällt auf unabsehbare Zeit für eine Zusammenarbeit aus

Und die Menschenrechte? Auch bei kooperationswilligen Ländern wie Tunesien oder Marokko gibt es Zweifel. Erst recht bei einigen afrikanischen Staaten, mit denen die EU im "Karthoum-Prozess" spricht. Für Günter Burkhardt von Pro Asyl geht es nur darum, "Nordafrika so aufzurüsten, dass die Flüchtlinge Europa nicht erreichen". Die Grenzsicherung, die die EU mitfinanziert, treibe Flüchtlinge den Schleppern zu. Mit Herkunftsländern zu kooperieren, wie es etwa mit Eritrea versucht wird, sei unerträglich.

Es müsse doch einen Aufschrei geben, wenn die EU mit Militärdiktatoren spricht. Flüchtlinge in Zentren aufzufangen hält er für keine gute Idee. Zeltstädte mit Hunderttausenden Menschen sieht Burkhardt als "apokalyptische Vision". Und wenn dort bereits ausgewählt werde, wer Asyl erhält, blieben Flüchtlingen Rechte vorenthalten, etwa auf Einspruchsverfahren.

Eine kurzfristige Lösung wird es kaum geben

Bayerns Europaministerin Beate Merk (CSU), die sich mit Flüchtlingsfragen befasst, weiß, dass die Partnerschaften mit den Herkunfts- und Transitländern in Nordafrika heikle Seiten haben. "Auch diese Länder schützen sich vor dem Zustrom von Migranten und Flüchtlingen." In Tunesien habe man ihr gesagt, dass man Leute auch zurückschicke, die von Algerien und Libyen hereindrängten. "Da ist jede Diskussion, welche Möglichkeiten einzugreifen wir Europäer haben, verebbt." Denn wer dort zurückgewiesen wird, gerät in Schlepperhände, "dann geht das ganze Spiel von vorne los. Wenn man ganz ehrlich ist, wird es da auch kaum eine kurzfristige Lösung geben."

Mit Marokko hat die EU seit 2013, mit Tunesien seit 2014 eine Kooperation. Die Europäer helfen bei Grenzsicherung und Schleuserbekämpfung, bei der Rücknahme illegaler Immigranten, der Ansiedlung von Flüchtlingen. Aber sie wollen auch legale Migration erleichtern, Asylsysteme und einen Flüchtlingsschutz aufbauen. Es sollen Perspektiven entstehen zu bleiben. Auch Bayern engagiert sich in Tunesien, mit Bildungs- und Ausbildungsprojekten, sie habe schon Erfolge gesehen, sagt Ministerin Merk, gerne würde man das auch in anderen Ländern machen.

Aber das zerfallende Libyen, Drehscheibe des Flüchtlingsstroms, fällt auf unabsehbare Zeit aus für Kooperationen. "Wenn es wie in Libyen gar keinen Ansprechpartner für Politiker gibt", sagt Merk, "wie will man da helfen?" Libyen sei "eine völlig offene Flanke", und Europa könne eigentlich nichts dagegen tun.

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