Flüchtlingspolitik:Deutschland ist zum Einwanderungsland gereift

Flüchtlingspolitik: Auf einem Sommerfest für Asylbewerber in Wolfratshausen bei München

Auf einem Sommerfest für Asylbewerber in Wolfratshausen bei München

(Foto: Harry Wolfsbauer)

Trotz aller Proteste gegen Unterkünfte, trotz aller Debatten ums Asylrecht: Deutschlands Bürger gehen viel offener mit Flüchtlingen um. Anfang der neunziger Jahre war das noch ganz anders. Ein Plädoyer für Optimismus.

Von Roland Preuß

Es hat sich viel getan, sehr viel. Es ist nur gut 20 Jahre her, da flogen die Brandbomben in die Häuser von Deutschtürken, in Solingen und Mölln verbrannten halbe Familien. Sie flogen in die Flüchtlingsheime, Menschen wurden durch die Straßen gejagt. Es war die Zeit der vielen Asylbewerber, fast 440.000 waren es 1992, 320.000 im Jahr danach.

Politiker sagten solche Sätze: "Prüfung des Antrags so schnell wie irgend möglich, gegebenenfalls Überprüfung durch einen Einzelrichter an Ort und Stelle - und dann an Kopf und Kragen packen und raus damit." Diese Sätze kamen nicht von DVU oder Republikanern, sie kamen vom nordrhein-westfälischen SPD-Fraktionschef Friedhelm Farthmann.

Es war die Zeit als die Union den "Asylantenzustrom" zum Wahlkampfthema machte und die Bild-Zeitung gegen Asylbewerber wetterte. "Fast jede Minute ein neuer Asylant. Die Flut steigt - wann sinkt das Boot?", hieß da eine Schlagzeile. "Irre! 11991 Mark für Asylfamilie - monatlich" eine andere. In dieser Woche heißt eine Schlagzeile auf der Bild-Titelseite: "Handwerk will syrische Flüchtlinge einstellen".

Früher wurde gepöbelt, heute kommen Spenden

Und selbst im viel gescholtenen Leitantrag der CSU, der die Migranten zu Hause Deutsch sprechen lassen wollte, liest man zum Thema Flüchtlinge: "Wir bekennen uns uneingeschränkt zum Grundrecht auf Asyl und zur Genfer Flüchtlingskonvention. Wer Opfer politischer Verfolgung ist oder aufgrund von Krieg oder Bürgerkrieg um sein Leben fürchten muss, bedarf unseres Schutzes und soll ihn auch bekommen."

Wo sich damals Gruppen gegen das lokale Asylbewerberheim zusammenfanden, entstehen heute vielerorts Initiativen zur Unterstützung der Flüchtlinge. Wo früher gepöbelt wurde, gibt es heute Kleiderspenden. Auch wenn Proteste und Demonstrationen, und Übergriffe auf Heime natürlich nicht ausbleiben. Doch selbst in Dresden stellen sich den 10 000 "Pegida"-Demonstranten gegen eine angebliche Islamisierung und Überfremdung fast ebenso viele Menschen auf der Straße entgegen.

Man muss diese Szenen vergleichen, um zu sehen, welchen Wandel Deutschland seit Anfang der 1990er Jahre durchgemacht hat. Den Wandel zum Einwanderungsland, dem inzwischen zweitgrößten weltweit nach den USA. Es war ein langer Weg. Ein Weg, der durch die Asyldebatte von 1992/93 erst einmal verstellt war.

Es kamen weiter Hunderttausende

Jeder Vorstoß, Deutschland solle sich für Fachkräfte öffnen, solle angesichts sinkender Geburtenraten von Einwanderungsländern lernen, wurde von Seiten der Union zurückgewiesen. Solch eine Debatte befördere nur Ausländerfeindlichkeit, sagte der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble. Nach der jüngsten Zuwandererwelle sei die Öffnung für weitere Migranten den Leuten nicht zumutbar, hieß es. Kein Wunder, nachdem man so mühsam einen Kompromiss zur Einschränkung des Grundrechts auf Asyl gefunden hatte. Deutschland sei "kein Einwanderungsland", betonte die Union. Und hinter diese klare Aussage konnte man jahrelang nicht zurück.

Dies war merkwürdig, denn faktisch war die Bundesrepublik längst zum Einwanderungsland geworden. Das war auch nach dem Asylkompromiss so. Die Asylbewerberzahlen gingen zwar zurück, doch es kamen weiterhin Hunderttausende: Aussiedler, Familienangehörige von Zugewanderten, Arbeitnehmer oder auch Juden aus Osteuropa. Es war eine verschämte Debatte um Zuwanderung; eine, in der offiziell kleingeredet wurde, was stattfand.

Kohl hätte dem Land viele Probleme ersparen können

Was in dieser Zeit schon alles in der Wissenschaft diskutiert wurde! Der Historiker Klaus Bade forderte Anfang der 1990er Jahre, von anderen Einwanderungsländern zu lernen, wies auf die hohe Arbeitslosigkeit unter Zuwanderern hin und schlug Kanzler Helmut Kohl eine "ganzheitlich konzipierte Migrations- und Integrationspolitik" vor sowie die Gründung eines "Bundesamtes für Migration und Integration". Heute gibt es ein Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das die Integrationskurse organisiert. Damals aber lehnte Kohl ab. Er hätte dem Land viele Probleme ersparen können.

Erst um die Jahrtausendwende wurde der Weg freigeräumt, dämmerte immer mehr Bürgern, dass man Einwanderung gestalten muss. Der Motor war der spürbare Mangel an jungen Leuten, an Fachkräften für die Unternehmen. Bundeskanzler Gerhard Schröder legte im Jahr 2000 die "Green Card" auf, das Staatsangehörigkeitsrecht wurde entrümpelt, mit dem Zuwanderungsgesetz 2005 kamen die Integrationskurse. Ein Jahr später saßen die Migranten bei Integrationsgipfel und Islamkonferenz erstmals mit Kanzlerin und Innenminister in einer großen Runde.

In diesen Jahren ist mehr geschehen als in den Jahrzehnten davor zusammen. Der Mangel an Fachkräften war ein Schlüssel für mehr Offenheit. Er ließ das alte Bild vom "Ausländer" verblassen: als Gastarbeiter, der immer fremd bleibt und irgendwann zurückgeht. Oder als Asylbewerber, der vermeintlich den deutschen Sozialstaat ausbeutet. Zuwanderer konnten anders sein, qualifiziert, gefragt, auf Augenhöhe. Es hatte sich gezeigt: Deutschland hat Hunderttausende Migranten und Flüchtlinge integriert, die Katastrophe ist ausgeblieben, die große Mehrheit hat ihren Platz gefunden. Jeder konnte es sehen: in den Unternehmen, in der Politik, in der Nationalmannschaft.

Reife heißt nicht, dass alle bleiben dürfen

Deutschland ist zum Einwanderungsland gereift, das lässt sich nicht nur sehen im Vergleich zu Frankreich, wo ein Front National mit Fremdenfeindlichkeit zweistellige Ergebnisse einfährt oder zu Großbritannien, wo der Premierminister die Zuwanderung begrenzen oder aus der EU aussteigen will.

Es lässt sich auch an Zahlen belegen, die kürzlich das Allensbach-Institut ermittelt hat (zum PDF). Zwei Drittel der Menschen in Deutschland können sich vorstellen, Asylbewerber persönlich zu unterstützen, jeder Dritte glaubt, dass das Land von ihrer Arbeitskraft profitieren kann. Dies ist eine ganz andere Stimmung als vor 20 Jahren. Und das, obwohl Deutschland im vergangenen Jahr unter den Industriestaaten die meisten Asylbewerber zählte. Es ist schon richtig: Fast jeder Vierte würde eine Initiative gegen eine Asylbewerberheim in seinem Ort unterstützen. Aber 1992 hätten dies noch viel mehr getan, nämlich mehr als jeder Dritte.

Zur Reife zählt, zu wissen, was man will. Reife heißt nicht, dass alle Asylbewerber automatisch Asyl erhalten, dass alle bleiben dürfen. Auch das kann man aus der Umfrage herauslesen. Die Fluchtgründe, die im Gesetz stehen, sind akzeptiert: wer verfolgt ist, soll Schutz erhalten, ob aus politischen oder religiösen Gründen, wegen seiner Hautfarbe oder seiner Homosexualität. Dem stimmt eine breite Mehrheit zu. Wer wegen Armut kommt, wegen Perspektivlosigkeit in seiner Heimat, ist dagegen als Asylbewerber nicht willkommen. Da geht es den Deutschen nicht anders als den Bürgern klassischer Einwanderungsländer wie Kanadiern oder Amerikanern. Daran hat sich seit 20 Jahren nichts geändert. Trotz aller Debatten.

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