Flüchtlinge in Europa:Warum die Türkei den Flüchtlingsdeal nicht kündigen wird

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Die Türkei hat bei der Aufnahme von Migranten mehr Größe bewiesen als viele EU-Staaten. Doch ihre Drohungen, den Pakt zu beenden, laufen ins Leere.

Kommentar von Mike Szymanski

Für den türkischen Staatspräsidenten war das Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union von Beginn an nichts anderes als ein Instrument zur Erpressung der EU.

Bevor der Pakt vor einem Jahr überhaupt wirksam wurde, baute sich Recep Tayyip Erdoğan in breitbeiniger Türsteher-Manier vor seinen Partnern auf und ließ sie wissen, dass er künftig bestimmen könne, wie viele Flüchtlinge nach Europa kämen. Er kostete den Moment voll aus, schließlich drohte die EU am Umgang mit der Krise zu zerbrechen. Ankara fühlte sich mächtig wie nie, indem es Politik ausgerechnet auf den Rücken der Schwächsten betrieb.

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Von Deniz Aykanat

Drohgebärde Flüchtlingspakt

Wenn es überhaupt eine Konstante in diesen turbulenten Monaten des Mit- und neuerdings vor allem des Gegeneinander mit der Türkei gibt, dann ist das jene: Wann immer Erdoğan meint, sich über die EU aufregen zu müssen, droht er mit einem Ende des Flüchtlingspaktes. Nur wahr gemacht hat er dies bis heute nicht. Das hat gute Gründe. Der stärkste dürfte dieser sein: Seine Drohung ist leer.

Die Lage seit Inkrafttreten des Paktes hat sich grundlegend geändert. Jene angeblich schwer zu bewältigende Masse an Flüchtlingen, die heute über die Türkei weiter nach Europa reisen würde, gibt es nicht mehr. Es gibt auch dieses Europa nicht mehr, das bis vor einem Jahr noch Sehnsuchtsort vieler Flüchtlinge war. Die EU hat sich abgeschottet, Mauern errichtet und Zäune hochgezogen.

Wie wenig von der Willkommenskultur übrig geblieben ist, illustriert auf bedrückende Art und Weise das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Es ist zum traurigen Symbol europäischer Abschreckungspolitik geworden. Im Winter starben Flüchtlinge, weil der Staat nicht einmal genügend beheizte Räume zur Verfügung gestellt hatte. Für Flüchtlinge ist Lesbos zur Gefangeneninsel geworden. Selbst ein Jahr nach Inkrafttreten des Paktes ist noch immer nicht der Zugang zu einem geordneten Asylverfahren gewährleistet.

Türkei hat in der Flüchtlingskrise mehr Größe bewiesen als die meisten Länder

Die Balkanroute ist besser gesichert, geschlossen ist sie für Flüchtlinge nicht. Der Traum von Deutschland? Endet aber für die Mehrheit an Zäunen im Nirgendwo. Wer heute als Flüchtling in der Türkei lebt, dürfte sich mit dem Leben dort arrangiert haben. Drei Milliarden Euro hat die EU der Türkei als Flüchtlingshilfe zugesagt. Geld, das mittlerweile auch bei den Flüchtlingen ankommt.

Selbst wenn die Türken nun alle Grenzen öffnen würden: Die Zeit, als sich täglich zehntausend Menschen über die Türkei nach Europa aufmachten, dürfte nicht wiederkehren. Bei aller Kritik an den Drohgebärden des Präsidenten: Die Türkei hat in der Flüchtlingskrise mehr Größe bewiesen als die meisten europäischen Länder. Drei Millionen Syrer sind heute in der Türkei registriert. Das Land hat mehr Flüchtlinge aufgenommen als alle anderen.

Auch Ankara kann kein Interesse daran haben, dass das Massensterben im Mittelmeer wieder einsetzt, weil sich Flüchtlinge wieder ungehindert im großen Stil auf die lebensgefährliche Überfahrt nach Griechenland begeben. Für eine solche Politik hätte Erdoğan auch in seinem eigenen Land keine Unterstützung. Sein innenpolitischer Verbündeter, die ultranationalistische MHP, warnte Erdoğan bereits, Flüchtlinge als Waffen einzusetzen.

Der Flüchtlingspakt ist alles andere als perfekt. Er hat Fehler, wie die Situation im überforderten und teils von Brüssel mit den Problemen im Stich gelassenen Griechenland zeigt. Dort duckt sich Europa immer noch ängstlich vor der Flüchtlingskrise weg und macht sich klein. In der Beziehung zur Erdoğan-Türkei erweist er sich aber als überraschend robust.

© SZ vom 18.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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