Flüchtlingslager in der Türkei:"In einem solchen Job schwingt die Gefahr immer mit"

Flüchtlingslager in der Türkei: Dank der Ernährungshilfe des UN World Food Programme kann die Familie dieses kleinen Jungen Essen kaufen.

Dank der Ernährungshilfe des UN World Food Programme kann die Familie dieses kleinen Jungen Essen kaufen.

(Foto: WFP)

Sie sieht jenes Elend, das in der deutschen Asyldebatte oft untergeht. Nesrin Semen betreut Tausende Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze - und spricht über Schicksale, die nur schwer zu ertragen sind.

Interview von Yannick Nock

Weil immer mehr Splittergruppen an Konflikten beteiligt sind, wird humanitäre Arbeit gefährlicher. Die Mitarbeiter des UN World Food Programme (WFP), der größten humanitären Organisation der Welt, sind häufig als Erste vor Ort. Seit drei Jahren arbeitet Nesrin Semen (32) für das WFP in den Flüchtlingslagern im Südosten der Türkei an der Grenze zu Syrien. Zurzeit leben fast zwei Millionen Syrer in der Türkei, täglich werden es mehr. Semen ist in Nürnberg geboren und in München aufgewachsen. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater stammt aus Istanbul.

SZ: Frau Semen, Mitglieder von Hilfsorganisationen werden immer häufiger verletzt, entführt oder getötet. Im vergangenen Jahr starben vier Ihrer Kollegen im Südsudan. Wie gehen Sie damit um?

Nesrin Semen: In einem solchen Job schwingt die Gefahr immer mit. Das müssen wir akzeptieren, jeder Helfer nimmt dieses Risiko in Kauf. Nur wird einem die Situation bei solchen Meldungen noch stärker bewusst. Glücklicherweise sind wir hier im Südosten der Türkei vergleichsweise sicher.

Sind Sie selbst schon in gefährliche Situationen geraten?

Als im vergangenen Jahr der große Flüchtlingsstrom aus Kobanê (von Kurden und der Terrormiliz Islamischer Staat umkämpfte nordsyrische Grenzstadt, Anm. der Red.) die Türkei erreichte, gingen wir ins Grenzgebiet, um schneller helfen zu können. Wir waren keiner akuten Gefahr ausgesetzt, allerdings hörten wir auf der anderen Seite der Grenze Bomben explodieren. Menschen mussten durch Minenfelder fliehen. Einige starben bei dem Versuch.

Ihre Eltern leben in München, die machen sich bestimmt Sorgen.

Natürlich rufen sie oft an, um sich zu versichern, dass es mir gut geht. Ich kann meine Eltern dann immer beruhigen. Ich habe nie daran gedacht, aufzuhören. Meine Arbeit erfüllt mich, ich möchte weiterhin helfen.

Flüchtlingslager in der Türkei: Nesrin Semen im Flüchtlingslager von Gaziantep.

Nesrin Semen im Flüchtlingslager von Gaziantep.

(Foto: WFP)

Wie sieht ein typischer Tag bei Ihnen in Gaziantep in der Nähe der syrischen Grenze aus?

Ich koordiniere unser Team, damit wir jeden Tag verschiedene Flüchtlingslager besuchen können. Das UN World Food Programme nutzt ein spezielles E-Card-Programm. Flüchtlinge in den Camps erhalten elektronische Gutscheine und können damit ihre Nahrungsmittel in Geschäften selbst auswählen und einkaufen. Das gibt Ihnen ein gewisses Maß an Selbstbestimmung und fördert zugleich die lokale Wirtschaft. Außerdem besuchen wir Flüchtlingsfamilien, um sie zu beraten und mehr über sie zu erfahren.

Welches Schicksal hat Sie besonders berührt?

Es ist schwierig, eines hervorzuheben. Alle Menschen, die hier ankommen, mussten alles zurücklassen, haben alles verloren. Erst vergangene Woche traf ich eine achtköpfige Familie, darunter sechs Frauen. Sie sind vor Monaten aus Kobanê geflohen und leben nun außerhalb des Flüchtlingslagers in einer spärlichen Unterkunft. Nur kann die Familie die Miete nicht mehr bezahlen, dabei würden die Frauen gerne arbeiten. Doch für sie ist es fast nicht möglich, eine Stelle zu finden. Eine der jüngeren Frauen hat mir von ihrem Bruder erzählt, der eine schwere Sehkrankheit hat. Auch er findet keine Arbeit, sondern kann nur zuhause sitzen und nichts tun. Die junge Frau hat Angst, wieder zurück nach Syrien gehen zu müssen. Sie hat einfach nur geweint.

Sie sehen viel Leid. So hart es klingt: Stumpfen Sie nicht ab?

Abstumpfen nicht, aber man muss aufpassen, dass man emotional nicht zu stark hineingezogen wird. Das ist manchmal sehr schwer. Ich fragte kürzlich eine ältere Frau, die ein kleines Kind umarmte, nach ihrer Familie. Sie sagte mir, dass es sich um das Kind ihres Sohnes handle, der im Krieg getötet wurde. Und die Mutter des Babys wurde in dem Moment von einer Kugel getroffen, als sie das Kind im Arm hielt. Auch sie sei gestorben. Es ist oft so: Man steckt mitten in einer Unterhaltung, fragt nach der Familie und hört dann solche Schicksale. Ich versuche mich, so gut es geht, zu kontrollieren, damit mir nicht die Tränen kommen. Das möchte ich meinem Gegenüber nicht antun, der emotional natürlich viel stärker betroffen ist als ich.

Ihre Organisation musste mangels Spenden die Ernährungshilfe Anfang 2015 in 9 von 20 Flüchtlingscamps einstellen und an die türkische Regierung übergeben. Alleine 13 Millionen US-Dollar werden bis Oktober benötigt, um die Hilfe aufrechtzuerhalten. Was wird aus den Flüchtlingen, wenn nicht genügend Gelder eingehen?

Bisher ist die türkische Regierung eingesprungen, wenn Hilfsorganisationen die Ernährungshilfe nicht mehr leisten konnten. Ob das auf lange Sicht der Fall sein wird, kann ich schwer einschätzen. Die Türkei ist mittlerweile das größte Aufnahmeland für Syrer in der Region. 1,8 Millionen Flüchtlinge leben hier. Das Land braucht Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft.

Wie erleben Sie vor diesem Hintergrund die Flüchtlingsdebatte in Deutschland, in der schnell von Asylmissbrauch gesprochen wird?

Es ist schon erstaunlich zu sehen, wie die türkische Bevölkerung die Flüchtlinge aufgenommen hat - fast ausschließlich positiv. Und das in einem Land, das nicht dieselbe wirtschaftliche Kraft hat wie Deutschland. Teile der einheimischen türkischen Bevölkerung leben selbst in Armut, trotzdem ist die Bereitschaft zu helfen, sehr groß. Das würde ich mir auch für Deutschland wünschen.

Welttag der humanitären Helfer

Der 19. August ist Welttag der humanitären Helfer und gedenkt der Menschen, die ihr Leben riskieren, um anderen zu helfen. Anlass für den Gedenktag war ein Bombenanschlag auf das UN-Hauptquartier im Irak am 19. August 2003, bei dem der damalige Hochkommissar für Menschenrechte, Sergio Vieira de Mello, und 21 seiner Kollegen starben. Durch die Konflikte in Syrien, der Ukraine und dem Sudan sind in den vergangenen Jahren so viele Helfer ums Leben gekommen wie nie zuvor.

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