Flüchtlingslager Idomeni:"Anschlag auf die Menschlichkeit"

Tausende Flüchtlinge haben im Lager bei Idomeni ausgeharrt - nun wird es geräumt. Wie konnte es so weit kommen, dass in Europa Menschen in Kälte und Schlamm zelten mussten? Eine Chronologie.

Bis zum August 2015 sind etwa 160 000 Flüchtlinge insbesondere aus Syrien nach Griechenland gekommen. Die Lage in den Aufnahmelagern ist katastrophal. Viele Flüchtlinge wollen auf der sogenannten Westbalkanroute über Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich und von dort aus weiter nach Deutschland und Schweden reisen.

Allein über den griechischen Grenzübergang Idomeni reisen täglich etwa 2000 Migranten nach Mazedonien. Das Land blockiert schließlich die Grenze für sie, bis zu 6000 Menschen sitzen fest. Versuche von Flüchtlingen, trotzdem einzureisen, verhindern mazedonische Soldaten mit Tränengas und Blendgranaten.

Ende August kündigt das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an, syrische Flüchtlinge, die Deutschland erreichen, würden nicht mehr in andere EU-Länder zurückgeschickt. Damit wird das Dublin-Abkommen hier praktisch außer Kraft gesetzt, demzufolge Flüchtlinge in dem Land der EU Asyl beantragen müssen, das sie als Erstes betreten.

Viele Flüchtlinge fühlen sich dadurch ermutigt, sich auf die Reise nach Deutschland zu machen. Ihre Zahl wächst deutlich. Einer der wichtigsten Transitpunkte bleibt Idomeni, wo die Flüchtlinge nach Mazedonien nun wieder über die Grenze dürfen, um mit Zügen weiterzureisen.

Ungarn macht seine Grenze im September für Flüchtlinge dicht, so dass diese nach Kroatien ausweichen.

Im Oktober werden an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien routinemäßig Flüchtlinge durchgelassen. Schätzungen gehen von täglich etwa 5000 Menschen aus, die weiter in Richtung Norden reisen.

Im November beschließen Serbien, Kroatien, Slowenien und Mazedonien nacheinander, nur noch Syrer, Iraker und Afghanen über die Grenze zu lassen. Iraner, Pakistaner, Somalier, Sudanesen, Marokkaner, Kongolesen, Palästinenser, Algerier und andere Flüchtlinge werden an den Grenzen zurückgewiesen. Sie gelten als Armutsflüchtlinge. Nur noch jeder zehnte Flüchtling kann weiterreisen. Mazedonien beginnt, seine Grenze nach Griechenland mit einem Stacheldrahtzaun zu sichern.

Flüchtlingslager bei Idomeni

Hoffen und Warten: Flüchtlinge im November 2015 an der Grenze bei Idomeni

(Foto: REUTERS)

Mehrere Tausend Flüchtlinge stranden in Idomeni. Versuche, die Grenze zu überqueren, werden von der Polizei verhindert. Es kommt zu Verletzten. Ein Marokkaner stirbt, als er auf einen Eisenbahnwaggon steigt und die Oberleitung berührt.

Im Dezember demonstrieren bei Idomeni viele Flüchtlinge. Die gestrandeten Menschen besetzen Eisenbahnschienen und blockieren den Güterzugverkehr nach Griechenland. Es kommt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die mazedonische Polizei setzt Gummigeschosse ein, Demonstranten werfen mit Steinen. Die Lage an der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien ist inzwischen so angespannt, dass offizielle Hilfsorganisationen wie das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR ihre Mitarbeiter abziehen. An der Grenze abgewiesene Flüchtlinge sollen mit Bussen in Aufnahmestationen in Athen gebracht werden.

Allein im September, Oktober und November sind mehr als 500 000 Menschen durch Idomeni gereist. Die Zahlen gehen seit Ende November aber zurück. Nun sind es nur noch einige Hundert, die täglich kommen, etwa ein Drittel davon sind Syrer. Insgesamt sollen mehr als 760 000 Flüchtlinge 2015 über die Balkanroute gereist sein.

Eskalation und Ende des Lagers 2016

Im Januar 2016 steigt die Zahl der Flüchtlinge wieder. Mitte des Monats kommen etwa 3000 Menschen täglich nach Idomeni. Zeitweilig wird die Grenze hier auch für Syrer, Iraker und Afghanen geschlossen. Mazedonien baut einen zweiten Grenzzaun, um den ersten zu verstärken. Die Proteste und Versuche der Flüchtlinge, die Grenze zu überqueren, gehen weiter.

Im Februar gelangen nur noch einige Hundert Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak täglich nach Mazedonien, etwa 5000 Menschen sind an der Grenze gestrandet. Immer wieder marschieren Flüchtlinge die Grenze entlang, um einen Durchlass zu finden. Eine Blockade der Eisenbahntrasse wird von der griechischen Polizei geräumt. Flüchtlinge werden mit Bussen zu Auffanglagern in Griechenland transportiert.

Die Europäische Union drängt Mazedonien, die Grenze für Syrer, Iraker und Afghanen offen zu lassen. Die Regierung in Skopje lässt aber keine Afghanen mehr ins Land, Syrer und Iraker brauchen nun gültige Papiere. Hunderte Flüchtlinge versuchen, den Grenzübergang zu stürmen, der daraufhin vorübergehend komplett geschlossen wird. Auf den griechischen Inseln kommen jedoch weiterhin täglich etwa 3000 Flüchtlinge an.

Flüchtlingslager Idomeni: Flüchtlinge versuchen, den Grenzzaun bei Idomeni zu überwinden. Die Polizei setzt daraufhin Tränengas ein.

Flüchtlinge versuchen, den Grenzzaun bei Idomeni zu überwinden. Die Polizei setzt daraufhin Tränengas ein.

(Foto: AFP)

Ende Februar halten sich mehr als 25 000 Flüchtlinge in Griechenland auf, sechs- bis siebentausend sitzen an dem Grenzübergang zwischen Griechenland und Mazedonien fest. Der Versuch von Flüchtlingen, Stacheldrahtabsperrungen niederzureißen, wird von der Polizei mit Tränengas gestoppt.

Im März steigt die Zahl der Flüchtlinge in Griechenland auf mehr als 47 000, in Idomeni sitzen bis zu 14 000 fest, die Hälfte sollen Frauen und Kinder sein, die bei schlechtem Wetter in dem improvisierten Lager ausharren. Einige Hundert Flüchtlinge werden jeden Tag nach Mazedonien hineingelassen. Das Land entscheidet, nur noch Flüchtlinge hereinzulassen, die über gültige Reisepässe und Visa verfügen.

Etliche, die abgewiesen werden, blockieren den Eisenbahnverkehr, versuchen, mit Gewalt durchzukommen, werfen Steine auf Polizisten. Tränengas beendet den Aufruhr. Zugleich kommen weiterhin Tausende Flüchtlinge nach Griechenland.

Der ehemalige deutsche Bundesarbeitsminister Norbert Blüm zeltet aus Solidarität eine Nacht in Regen, Matsch und Kälte in dem überfüllten Flüchtlingslager in Idomeni. Er bezeichnet die Zustände als "Anschlag auf die Menschlichkeit" und "Kulturschande".

Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze

Norbert Blüm im Flüchtlingslager Idomeni

(Foto: Kay Nietfeld/dpa)

Nach Blüms Besuch machen sich etwa 2000 Flüchtlinge erneut auf, um die Grenze auf eigene Faust zu überqueren. Drei Menschen sterben dabei in einem Fluss. Wer es über die Grenze schafft, wird von Sicherheitskräften zurückgeschafft.

Die Flüchtlinge waren dem Aufruf auf einem Flugblatt gefolgt, das von einem "Kommando Norbert Blüm" verteilt worden war. Blüm distanzierte sich von der Aktion.

Seit dem 20. März gilt ein Abkommen der EU mit der Türkei: Flüchtlinge, die von nun an über die Türkei nach Griechenland kommen, sollen dorthin zurückgebracht werden. Dafür sollen insgesamt 72 000 Syrer von dort in die EU kommen.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow bietet an, sein Land könne bis zu 2000 Flüchtlinge aus Idomeni aufnehmen. Die Bundesregierung lehnt ab.

Im April wird die Zahl der Flüchtlinge, die in Idomeni festsitzen, auf etwa 12 000 geschätzt. Nachdem ein Flugblatt zu einem Marsch auf die mazedonische Grenze aufruft, kommt es zu stundenlangen Ausschreitungen zwischen Flüchtlingen und mazedonischen Sicherheitskräften. Mehr als 300 Menschen werden verletzt, unter anderem durch Gummigeschosse.

Seit dem Übereinkommen zwischen EU und der Türkei ist die Zahl der Flüchtlinge, die über die Ägäis nach Griechenland kommen, um 80 Prozent gesunken, berichtet die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) unter Berufung auf die EU-Grenzschutzbehörde Frontex.

Es zeigt sich, dass immer mehr Menschen über Bulgarien und Serbien nach Europa fliehen, statt nach Griechenland.

Im Mai wird die Zahl der Flüchtlinge, die in Idomeni ausharren, auf etwa 8500 geschätzt. Seit dem 24. Mai räumt die Polizei das Lager. Die Bewohner sollen in Auffanglager gebracht werden. Manche Flüchtlinge verstecken sich allerdings offenbar in den umliegenden Wäldern und Feldern.

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