Flüchtlingsheime in NRW:Aufnahmestopps, Windpocken, Hungerstreik

  • In Nordrhein-Westfalen bekommen nicht alle Flüchtlinge die Hilfe, die sie benötigen.
  • Die Dortmunder Erstaufnahme für Flüchtlinge musste binnen weniger Tage zweimal einen Aufnahmestopp verhängen.
  • In acht Unterkünften sind Windpocken ausgebrochen.
  • In Dortmund bedrohen Neonazis Flüchtlinge und ihre Helfer.

Von Jannis Brühl, Düsseldorf

Einer wollte sich anzünden. Einer hat absichtlich gehungert. Dazu Windpockenausbrüche und Unterkünfte, die niemanden mehr aufnehmen können. Und dann sind da noch die Rechten. Während viele auf die Pöbler vor der Unterkunft im sächsischen Freital schauen, spielen sich auch in der Ruhrgebietsstadt Dortmund Dramen ab, die die Brisanz der Flüchtlingssituation deutlich werden lassen: die Verzweiflung der Geflohenen. Der Hass einiger Deutscher. Die Überforderung der Behörden.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) versprach im Herbst einen "Paradigmenwechsel" bei der Betreuung und Unterbringung von Flüchtlingen - auch eine Reaktion auf den Skandal von Burbach. Damals hatten Sicherheitsleute in überfüllten, schlecht kontrollierten Unterkünften Flüchtlinge misshandelt. Danach gelobte man in NRW auf zwei "Flüchtlingsgipfeln" parteiübergreifend Besserung: mehr Kontrollen gegen Missstände, mehr Plätze, mehr Personal. Derzeit sieht es aber eher so aus, als stehe das System stehe kurz vor dem Kollaps.

In Dortmund musste zweimal binnen weniger Tage die Erstaufnahmeeinrichtung geschlossen werden. In der landen Neuankömmlinge, bevor sie auf andere Heime verteilt werden. Flüchtlinge mussten auf dem Rasen vor der Einrichtung schlafen, nicht einmal mehr auf Stühlen in den Gängen des Gebäudes war noch Platz. Statt der zugelassenen 350 Bewohner drängten sich dort 900 Menschen. Die meisten wurden auf andere Unterkünfte verteilt, aber wenige Tage später hieß es erneut: Aufnahmestopp.

Grund der Überlastung: Acht Unterkünfte sind gesperrt, weil Windpocken ausgebrochen waren, unter anderem in Essen, Bad Berleburg und Olpe. Kein Flüchtling darf mehr raus, kein neuer aufgenommen werden. Deshalb müssen so viele nach Dortmund.

Zahlen, die nichts mit der Realität zu tun haben

Mitten in der Sommerpause zitierte die CDU Innenminister Ralf Jäger (SPD) in eine Sondersitzung des Innenausschusses im Landtag. Wirklich etwas beizutragen hatte die konservative Opposition in Düsseldorf nicht. Sie wollte nur den Innenminister angreifen, den sie seit den Vorfällen von Burbach als angeschlagen sieht.

Das Problem von Politikern wie Jäger ist, dass sie mit Zahlen hantieren, die mit der Realität nichts zu tun haben. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) kalkulierte im September deutschlandweit mit 200 000 Flüchtlingen, im Februar dann mit 250 000, seit Mai dann mit 400 000. Jetzt zeigt sich, dass auch diese Zahl noch zu niedrig ist.

Allein vergangene Woche erreichten Jäger zufolge 4406 Neulinge NRW. Statt der bisher geplanten 85 000 Erstantragstellern dürften es in dem Bundesland bis Ende des Jahres 100 000 werden, das wären doppelt so viele wie im Vorjahr. Jäger bittet um Nachsicht, das Land tue bereits viel: "Nordrhein-Westfalen wird in diesem Jahr mehr Flüchtlinge aufnehmen als ganz Frankreich." In weniger als drei Jahren habe man die Aufnahmekapazität verfünffacht. Auch in Unna und Bielefeld sind Erstaufnahmeeinrichtungen überfüllt.

Fünf Reisebusse - oder 15

In Dortmund kommt noch hinzu, dass viele Flüchtlinge vom Balkan direkt in die Stadt reisen, weil sie im Ruhrgebiet Menschen kennen. Obwohl Antragsteller etwa aus Bosnien praktisch keine Chance mehr auf Asyl haben. Ihre Zahl sei oft schwer abzuschätzen, sagt Jäger: "Wenn die Verwaltung morgen die Tür aufschließt, wissen sie nicht, ob es fünf Reisebusse sind oder 15."

Claudia Middendorf, CDU-Abgeordnete aus Dortmund, ruft Jäger im Ausschuss zu: "Das Feuer ist entfacht, bitte löschen Sie es!" Der Minister dagegen warnt vor Alarmismus, vor Rhetorik à la "Das Boot ist voll". Sonst könne die positive Einstellung vieler Deutscher zu Flüchtlingen kippen. Die Warnungen seiner eigenen Behörden sind jedenfalls deutlich: Die dem Ministerium unterstellte Bezirksregierung Arnsberg spricht von einem "Ansturm von Flüchtlingen", der zu "enormen Engpässen" führe.

Nazis suchen Konfrontation mit Flüchtlingen

Jäger sagt, "Anti-Asyl-Proteste wie in Freital" dürfe es in Nordrhein-Westfalen nicht geben. Da unterschlägt er, dass es schon Aggressionen von rechts gibt. Die besonders aktive Dortmunder Nazi-Szene sucht jede Woche die direkte Konfrontation mit Asylbewerbern, hält "Mahnwachen" vor Unterkünften ab. Oder, wie die Nazi-Gegner hier sagen: "Wahnmachen".

Auch das Camp am Hauptbahnhof haben die Rechten im Visier. Dort demonstrieren seit Wochen ein paar Dutzend Syrer. Sie fordern, dass ihre Asylanträge binnen drei Monaten bearbeitet werden. Meist dauert das momentan doppelt so lang. Im Fall der Bürgerkriegsflüchtlinge geht es um Leben und Tod. Sie haben eine 100-prozentige Chance, anerkannt zu werden, aber ihre Familien sitzen noch im Libanon oder Syrien. Sie können nicht nachkommen, solange das Bamf die Anträge derer nicht bearbeitet, die bereits hier sind.

Zwei Angehörige von Demonstranten seien in Syrien allein während der Dauer des Camps getötet worden, sagt Robert Rutkowski. Er ist Mitarbeiter von Piratenabgeordneten im Landtag und kümmert sich um das Camp. Ein Asylbewerber, dessen Antrag abgelehnt worden war, übergoss sich dort mit Benzin und versuchte, sich anzuzünden. Andere Flüchtlinge rangen ihn im letzten Moment nieder. Ein anderer trat zwischenzeitlich in den Hungerstreik.

Bedrohung durch Rechtsextreme

Polizisten müssen die Syrer schützen, denn die Neonazis provozieren. Im Juni wollten sie sich dem Camp nähern, fünf wurden in Gewahrsam genommen. Rutkowski sagt: "Jeden Tag sind hier Nazis am Camp und versuchen, Fotos zu machen und zu sichten." Zuletzt versuchten sie, eine SPD-Politikerin und Organisatorin einer Gegendemo einzuschüchtern. Nachdem die Nazipartei "Die Rechte" deren Telefonnummer veröffentlichte, wurde sie bedroht.

Das Problem hat Jäger zufolge auch Ursachen außerhalb von Nordrhein-Westfalen. Mehrere andere Bundesländer wie Hessen und Bayern hätten ebenfalls keine Kapazitäten mehr. Sie schickten Flüchtlinge Richtung Nordrhein-Westfalen, erzählt ein Mitarbeiter der Bezirksregierung, der die Unterbringung organisiert. Sein Bundesland könne sich das nicht leisten, sagt er im Ausschuss: "Wenn NRW vom Netz geht, bricht das ganze System zusammen." Damit das nicht passiere, dürfe es bei der Unterbringung "keine Denkverbote geben", sagt Jäger.

In Bochum gab es keine. Dort sollen bald Wohncontainer für Flüchtlinge stehen. Auf einem Friedhof. Immerhin auf dem Teil ohne Gräber.

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