Flüchtlingsgipfel in Brüssel:Entscheidung vertagt - Türkei sucht den umfassenden Deal

  • Die Entscheidung der EU über die Flüchtlingspolitik ist vertagt - bis zum nächsten Gipfel in zehn Tagen.
  • Die Türkei hatte die Europäer mit einem Vorschlag überrascht, der viel weiter ging als erwartet.
  • Deutschland wird verdächtigt, hinter dem türkischen Angebot zu stecken. Merkel dementiert das.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Zwölf Stunden Gespräche, zwölf Stunden Kampf, und noch immer keine Lösung. So könnte man zusammenfassen, was die EU und die Türkei bei ihrem Gipfeltreffen am Montag in Brüssel erreicht haben. Offiziell ist nichts vereinbart, man hat eine Einigung vertagt auf den nächsten Gipfel in zehn Tagen. Bis dahin soll EU-Ratspräsident Donald Tusk ein Paket mit Ankara aushandeln.

Andererseits kann man das Ergebnis, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel aber auch Tusk am Dienstagmorgen formulierten, getrost als "Durchbruch" in der Zusammenarbeit zwischen der EU und der Türkei bezeichnen. Auch wenn Merkel vor den Landtagswahlen eine komplette Lösung weitaus gelegener gekommen wäre.

Beide Seiten haben sich im Grundsatz auf ein neues und ziemlich gewagtes Verfahren zur Eindämmung des Flüchtlingsstroms verständigt. Die EU werde künftig auch unerlaubt einreisende Syrer wieder in die Türkei zurückschicken können, sagte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Nicht nur "Wirtschaftsmigranten" also, sondern alle, die sich trotz der verschärften Grenzkontrollen noch auf die gefährliche Reise über die Ägäis begeben.

Die Balkan-Route könnte obsolet werden

Damit die Türkei mit der Last nicht alleine bleibt, müsse die EU aber für jeden zurückgebrachten Syrer einen syrischen Bürgerkriegsflüchtling auf legalem Weg aufnehmen. Dies sei ein qualitativer Schritt nach vorn, weil dadurch die illegale Migration durchbrochen werde, sagte Merkel. Dies ist im Prinzip der Deal, für den ihre Regierung seit Wochen kämpft: Die Türkei macht die Grenzen so dicht wie möglich, und wer doch noch durchkommt, wird von Griechenland zurückgeschickt.

Wenn das funktioniert, würde die Balkan-Route nach und nach obsolet, aber auf eine ganz andere Art und Weise als durch die Grenzschließungen, wie sie beispielsweise Österreich, Ungarn und andere osteuropäische Staaten propagieren. Auch Tusk schien das so zu sehen. "Die Tage illegaler Migration nach Europa sind vorbei", sagte er.

Die Türkei hatte die Europäer mit einem Vorschlag überrascht, der viel weiter ging, als zumindest die meisten anwesenden Staats- und Regierungschefs erwartet hatten. Premierminister Ahmet Davutoğlu legte alles auf den Tisch, was eine Rolle spielen wird in den beiderseitigen Beziehungen. Er suchte die große Einigung, den umfassenden Deal.

Es gab einigen Unmut am Verhandlungstisch über diese Überrumpelung, denn ursprünglich hatten viele geglaubt, man werde mit dem türkischen Gast nur über eine verstärkte Rückübernahme von Wirtschaftsflüchtlingen aus Griechenland reden. Dass es anders kam, lag zwar durchaus im Interesse der deutschen Regierungschefin, weshalb im Laufe des Abends von mehreren Ländern der Verdacht geäußert wurde, die ganze Idee stamme gar nicht aus Ankara, vielmehr habe sie jemand im Berliner Kanzleramt formuliert.

Merkel beeilte sich, das am Ende zu dementieren. "Der Plan kam ganz eindeutig von der Türkei." Sie habe immer gesagt, dass man eine nachhaltige Lösung brauche. Es brauchte offenbar einiges Armdrücken, um die Kollegen zu besänftigen. Die Sitzung wurde verlängert, ein Scheitern stand im Raum. Das geplante Abendessen aller 28 Staats- und Regierungschefs mit Davutoğlu fiel schließlich aus. Und dann wurde man sich doch noch einig, sich demnächst einig werden zu wollen.

Schwer zu glauben, dass die Türkei alle 72 Bedingungen erfüllt

Bis zum 17. März sei nun noch viel zu tun, sagte Merkel. Zu Recht, denn Davutoğlu stellt eine Reihe von Bedingungen auf, die es in sich haben. Das betrifft weniger die drei zusätzlichen Milliarden Euro, die die EU nach türkischem Wunsch bis 2018 in Hilfsprojekte für die syrischen Flüchtlinge investieren soll.

Vielmehr geht es um die Visa-Liberalisierung, die der Türkei so wichtig ist. Sie soll nun schon spätestens Ende Juni kommen, bisher war von einer Überprüfung Ende Oktober die Rede gewesen. Man werde die Standards dabei nicht senken, kündigte Tusk an. Dass die Türkei aber wirklich alle 72 Bedingungen voll erfüllt, die die EU an die Liberalisierung geknüpft hat, und das schließlich auch das Europäische Parlament mit einer solchen Entscheidung einverstanden wäre, das ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu glauben.

Beginn einer heiklen Kooperation

Ebenso heikel ist die türkische Forderung, so schnell wie möglich neue Kapitel in den Beitrittsverhandlungen mit der EU zu eröffnen. Nicht ohne Grund liegen die Verhandlungen seit Längerem auf Eis, was mit der ungelösten Zypern-Frage, aber auch mit grundsätzlichen Differenzen und großer Unlust auf beiden Seiten zu tun hatte. In dieser Hinsicht hat sich nicht sehr viel voranbewegt. Er vertraue aber nun den Versprechen, die ihm Tusk und Juncker gegeben hätten, sagte Davutoğlu listig.

Dieses Gipfel-Ergebnis könnte den Beginn einer heiklen, aber vermutlich unumgänglichen Kooperation mit der Türkei bedeuten. Die EU begibt sich damit in die Hände eines unangenehmen Partners. Ja, man habe Menschenrechtsfragen in den Verhandlungen angesprochen, sagte Tusk mit Blick auf die jüngsten Repressionen gegen eine türkische Oppositionszeitung. "Ohne Medienfreiheit kann es keine gesunde Entwicklung der Gesellschaft geben", sagte er. "Da können wir nicht gleichgültig bleiben."

Er sei gegen jegliche Beschränkung der Meinungs- und Medienfreiheit, entgegnete Davutoğlu seelenruhig. Wer das nicht glaube, hätte sich doch bitte die Debatte rund um die Wahlen im vergangenen Jahr ansehen sollen. Im Falle der Zeitung Zaman gehe es doch um etwas ganz anderes, nämlich "Geldwäsche und die Verbrechen eines kriminellen Netzwerks". Nicht nur in diesem Moment wurde klar, wie viele Welten die neuen Partner in Wahrheit noch immer trennen. Es werden viel Geschick und Geduld nötig sein, um aus dieser Notbeziehung eine tragfähige Kooperation zu zimmern.

Merkel zumindest glaubt daran. Weil sie dringend angewiesen ist auf diesen Erfolg. Wenigstens einen kleinen symbolischen Triumph konnte sie schon jetzt verzeichnen.

Entgegen der ursprünglich vorbereiteten EU-Gipfelerklärung wird die Balkanroute nicht mehr als geschlossen bezeichnet. "Irreguläre Ströme von Migranten entlang der Route des westlichen Balkans müssen nun enden", heißt es lediglich im Abschlusstext des Gipfels. Die Bundesregierung hatte sich gegen den ursprünglichen Text gewehrt, weil er wie eine gezielte Absage an Merkels Politik wirken musste.

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