Flüchtlingsdebatte:Wer sich für das Helfen entscheidet - und wer für die Angst

Fl¸chtlinge bei der Tafel Mechernich

Zu helfen ist nur bei wenigen Menschen der erste Impuls, denn in Konfrontation mit Fremden reagieren sie neben Neugier vor allem mit Angst.

(Foto: dpa)

In der Flüchtlingskrise entstand die größte zivilgesellschaftliche Bewegung seit Jahrzehnten. Wer sind die Helfer? Was treibt sie an? Und wo liegen ihre Grenzen?

Analyse von Hannah Beitzer, Berlin

24 000. So viele Mitglieder hat die Alternative für Deutschland ungefähr. Ähnlich viele Menschen brachte die fremdenfeindliche Pegida-Bewegung zu ihren besten Zeiten auf die Straße. Aber was sind eigentlich 24 000 im Vergleich zu neun Millionen?

10,9 Prozent aller Deutschen - das sind ungefähr neun Millionen Menschen - haben sich einer Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland zufolge Ende 2015 in der Flüchtlingshilfe engagiert - mehr als im Sport, dem bisherigen Spitzenreiter beim Engagement der Deutschen. Und entgegen vieler Prophezeiungen ist die Willkommenskultur auch noch nicht am Ende. Vielmehr sind viele Initiativen und spontan gegründete Netzwerke inzwischen äußerst professionell geworden, zeigt zum Beispiel eine Studie der Bertelsmann-Stiftung.

Angesichts der Wahlerfolge der AfD beschäftigen die deutsche Öffentlichkeit aber eher die Ängste jener, die die Partei wählen. Und weniger die Menschen, die das Gegenteil dieser Ängste zeigen: Mut, Engagement, Neugier, Idealismus.

Dabei sind in ungewöhnlichen Situationen wie dem Zuzug von Hunderttausenden Flüchtlingen stets beide Impulse im Menschen angelegt, erzählt Beate Küpper, Sozialpsychologin und Vorurteilsforscherin. "Menschen haben stets zwei Grundtendenzen, wenn sie mit einer fremden Situation konfrontiert sind", sagt sie. "Das sieht man schon bei Babys: Sie schwanken zwischen Neugier und einem Gefühl der Bedrohung."

Das Gefühl von Sicherheit

Welcher Mensch entscheidet sich für Angst? Und welcher für die Neugier? Auffällig sei, dass Babys, die sich sicher auf dem Arm einer Bezugsperson befänden, häufiger zu neugierigem Verhalten neigten als zu Abwehr und Angst, sagt Küpper.

Das passt zu dem Bild, das Forscher über die Helfer gewinnen konnten. In Befragungen des Wissenschaftszentrums Berlin und der Hochschule für angewandte Wissenschaften München stellte sich zum Beispiel heraus, dass eine überdurchschnittlich große Anzahl der Flüchtlingshelfer ihre Stellung in der Gesellschaft als sicher empfindet. Viele von ihnen haben angesehene Berufe mit guten Einkommen.

Natürlich gibt es auch Menschen mit guten Jobs, die etwas gegen Flüchtlinge haben. "Das geht häufig mit einer konservativen Einstellung und einer Verunsicherung über das eigene Umfeld einher, die zu dem Schluss führen: Früher war alles besser", sagt Küpper. Oder eben: Alles muss so bleiben, wie es ist. "Dabei war es früher vielleicht für den weißen, männlichen Haushaltsvorstand besser. Aber für andere Gruppen überhaupt nicht", sagt Küpper.

Die Bildungsabschlüsse der Helfer sind überdurchschnittlich

Und natürlich gibt es auch viele Menschen mit geringem Einkommen, die sich für Flüchtlinge engagieren. So sind zum Beispiel Studentinnen und Studenten unter den Helfern überproportional häufig vertreten. Also eine Bevölkerungsgruppe, die in der Regel wenig Geld hat. Und keinesfalls immer eine sichere Job-Perspektive.

Sie passen jedoch in anderer Hinsicht in die Gruppe der Helfer. Die Bildungsabschlüsse der Ehrenamtlichen in diesem Bereich sind im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich. "Menschen mit höherer Bildung zeigen in Umfragen weniger Vorurteile als Menschen, die weniger gebildet sind", sagt Küpper. Dabei spiele, so erklärt es die Forscherin, nicht unbedingt das Mathematik-Abitur eine Rolle, sondern die Zeit und die intellektuelle Fähigkeit, sich mit gesellschaftlichen Prozessen und Demokratie auseinander zu setzen. Auch die Kenntnis anderer Kulturen wirke sich positiv aus.

Die Motive vieler Helfer sind dabei nicht nur altruistischer Natur. Das hat eine Befragung der Münchner Hochschule für angewandte Wissenschaften ergeben. Zwar spielen für sie humanistische und religiöse Motive ("Gutes tun", "Verantwortung übernehmen") eine große Rolle - doch viele Helfer nennen explizit auch persönliche Motive wie "Mein Wissen weitergeben", "Weil es mir gut tut, gebraucht zu werden" oder schlicht den Spaß, den Begegnungen mit Menschen aus anderen Kulturen bringen. Flüchtlingshilfe ist auch eine Form der Freizeitgestaltung.

Deutschland zwischen Open Borders und der "Festung Europa"

Diese Erkenntnisse bestätigt auch Sozialpsychologin Küpper: "Die Einstiegsmotivation ist bei vielen Helfern humanistischer Natur. Aber damit sie dabei bleiben, muss es auch Spaß machen." Als große Hürde sieht sie Schmähungen und Drohungen, denen Flüchtlingshelfer immer häufiger ausgesetzt sind. Sie rät daher auch Menschen, die sich selbst nicht engagieren, aber Engagement grundsätzlich gut finden, den Helfern gegenüber freundliche Worte zu finden.

Ein wichtiger Faktor für das Engagement ist außerdem, ob sich Menschen in andere Menschen hinein versetzen können, also empathisch seien. "Zurzeit erleben wir zum Beispiel häufig, dass sich ältere Menschen in der Flüchtlingskrise an eigene Fluchterfahrungen erinnern - und deshalb helfen wollen", sagt Küpper. Ähnlich verhalte es sich auch mit jungen Menschen, die selbst einen Migrationshintergrund haben. Sie treten in der gegenwärtigen Situation besonders engagiert auf.

"Das bedeutet nicht, dass sie nicht gleichzeitig auch unsicher sein können", sagt Küpper. "Aber die Neugier siegt einfach." Das passt zu den Erkenntnissen von Forschern, wonach viele Menschen zunächst durchaus skeptisch auf das Flüchtlingsheim in der Nachbarschaft reagieren, sich dann aber entscheiden, lieber tatkräftig mitzuhelfen, dass die Situation für alle so angenehm wie möglich wird. "Das hat auch etwas mit dem Selbstbild der Helfer zu tun. Viele sagen sich: Ich will nicht verschlossen und ängstlich sein - sondern offen und großherzig", sagt Küpper.

Sind Helfer naiv?

Gerade diese Einstellung zieht in der Debatte auch einige Kritik auf sich. Naiv seien die Helfer, Probleme blendeten sie aus. Nach der Silvesternacht in Köln kamen diese Vorwürfe ebenso wie nach islamistischen Anschlägen. Küpper sieht das nicht so. "Im Gegenteil, viele Helfer erfahren in ihrer Arbeit, wie schwer es ist, Menschen hier zu integrieren." Sie stießen auf bürokratische Hindernisse und erlebten persönliche Konflikte. Naiv könnten sie da nicht lange bleiben.

Aber was geschieht eigentlich, wenn man das Streben nach Offenheit und Großherzigkeit konsequent weiterdenkt? Mit dieser Frage hat sich der Philosoph und Umweltethiker Konrad Ott in seinem Essay "Zuwanderung und Moral" beschäftigt. Er steht der sogenannten Willkommenskultur skeptisch gegenüber.

Sein Text ist deswegen besonders lesenswert, weil Ott keinesfalls Pegida, AfD und Co. nahesteht. Im Gegenteil, müsste einer der Dresdner Demonstranten den typischen "Gutmenschen" beschreiben, es könnte leicht einer wie Ott herauskommen. Er ist Mitglied der Grünen, seine Frau Theologin und in seinem Umfeld, so erzählt er es in einem Gespräch, herrsche die einhellige Meinung: Deutschland muss in der Flüchtlingskrise ein freundliches, offenes Gesicht zeigen. "Ich kenne diese Moral, weil es ein stückweit auch meine eigene ist", sagt er lachend.

Die Grenzen der Willkommenskultur

Vor jenen Menschen, die Flüchtlingen Sprachunterricht geben und sich für einen humanen Umgang mit ihnen einsetzen, habe er allerhöchsten Respekt, sagt der Philosoph. "Aber trotzdem müssen wir auch einen politischen Weg finden, wie wir als Staat mit der Situation umgehen." Und da stoße die Willkommenskultur eben schnell an ihre Grenzen.

In seinem Essay unterteilt Ott frei nach Max Weber die Akteure der Flüchtlingskrise in Gesinnungsethiker und Verantwortungsethiker. Erstere sind die Menschen in seinem Umfeld, Gruppen wie Pro Asyl, grüne Politiker, Teile der linken und liberalen Medien. Sie neigen Ott zufolge der Einstellung zu: "Alle Flüchtlinge haben ein moralisches Anrecht darauf, Schutz zu finden."

Die Verantwortungsethiker, die Ott in den liberal-konservativen Medien, Gerichten, der Verwaltung und in Teilen von SPD und CDU verortet, nähmen hingegen stärker die politischen und gesellschaftlichen Folgen der Fluchtbewegungen in den Blick. Sie suchten nach Lösungen, die für den Staat verträglich sind.

Schlingertanz in der Flüchtlingsfrage

Uneins seien die beiden Lager Ott zufolge zum Beispiel in der Frage, was als ausreichender Grund für eine Flucht gelten soll. Gesinnungsethiker tendierten dazu, die anerkannten Fluchtgründe von Krieg und Verfolgung auszuweiten. Zum Beispiel auf Armut, ungleiche Behandlung von Mann und Frau, Umweltkatastrophen.

Ott findet das zwar sympathisch - aber aus einer verantwortungsethischen Position heraus schwierig: "Die Diskussion beginnt bei moralischen Positionen, die völlig selbstverständlich erscheinen, aber sie begibt sich auf einen Weg, der argumentativ zu Open Borders führt, also zu dem Recht, sich überall auf der Welt niederzulassen." Das würde aber die organisatorischen Fähigkeiten der Staaten überfordern, in die die Flucht erfolgt.

Befragungen zeigen, dass viele Deutsche diese Einstellung Otts teilen. Die Willkommenskultur verlor einer Umfrage der Universität Bielefeld zufolge in den vergangenen Monaten an Zuspruch. Zwar finden nach wie vor drei Viertel aller Deutschen, dass Flüchtlinge ein Recht auf eine bessere Zukunft haben. Doch 60 Prozent fürchten auch, dass ihr Zuzug nach Deutschland Probleme bereiten könnte. Berichte über islamistische Terroranschläge aus aller Welt, über sexuelle Übergriffe und Integrationsprobleme verstärken das Misstrauen gegenüber Flüchtlingen.

Zwischen Kälte und Warmherzigkeit

Umgekehrt laufen Ott zufolge die Verantwortungsethiker, die auf eine strikte Trennung von Flucht und Migration beharren und auf Grenzen der Aufnahmefähigkeit verweisen, Gefahr, kaltherzig zu werden - und Europa in eine Festung zu verwandeln. "Da landet man dann schnell bei Aussagen wie: Natürlich darf auch auf Kinder geschossen werden", sagt er.

Zugrunde läge dem Konflikt eine weitere Frage: Was steht höher? Das Recht des einzelnen auf humane, moralisch einwandfreie Behandlung? Oder das Recht eines Staates, zum eigenen Schutz Regeln aufzustellen, die unter Umständen die Rechte außenstehender Individuen einschränken?

Ott schildert in seinem Essay genau jenen Schlingertanz, den auch die deutsche Debatte im vergangenen Jahr hingelegt hat: "Die Euphorie der Willkommenskultur ist einer neuen Nüchternheit gewichen", sagt er. "Wir diskutieren zurzeit eher über politische Probleme wie das Türkei-Abkommen als über moralische Fragen."

Gleichzeitig sind da natürlich immer noch die Bilder ertrunkener Flüchtlinge, "Und die sind moralisch nicht zu ertragen", sagt Ott. Genau jene Bilder nennt auch die Bertelsmann-Studie als einen wichtigen Grund, warum die Hilfsbereitschaft vor Ort nicht abreißt. Ott beschreibt in seinem Essay das moralische Dilemma vieler Deutscher: Europa soll keine Festung werden, Verantwortung übernehmen. Aber auch nicht einfach alle Grenzen fallen lassen. Es ist ein Dilemma, das Deutschland noch weiter beschäftigen wird.

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