Flüchtlinge:Zwischen Sozialkitsch und Panikmache

Sigmar Gabriel mahnt "Nächstenliebe" an, die Union beschwört den Untergang des Abendlands. Dabei betrifft der Elternnachzug gerade einmal 105 junge Menschen.

Von Constanze von Bullion

Im Gezänk um minderjährige Flüchtlinge, die ohne Eltern nach Deutschland kommen, wurde verbal mächtig aufgerüstet in den letzten Tagen. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel hatte das Thema beim Aushandeln des Asylpakets II erst einmal gar nicht auf dem Schirm. Dann aber drückte er - sozusagen posthum - umso fester auf die Tränendrüse und mahnte "Nächstenliebe" für Flüchtlingskinder an. Irgendwie schrill klangen auch die Töne aus der Union, wo einige so taten, als seien allein geflüchtete Jugendliche drauf und dran, Deutschland mit Heerscharen von Familienangehörigen einzunehmen.

"Elternnachzug", das ist ein neuer Kampfbegriff geworden, und die Frage, welche jungen Flüchtlinge Angehörige nach Deutschland holen dürfen und welche nicht, wird so emotional geführt, als gehe es da um alles oder nichts. Fakten und Zahlen allerdings sprechen eine andere Sprache, und ein nüchterner Blick auf die Szenerie zeigt: Hier helfen weder Sozialkitsch noch Panikmache weiter. Gerade mal 105 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben 2015 subsidiären Schutz in Deutschland erhalten. Nur um solche Flüchtlinge nämlich geht es im aktuellen Streit. Zugegeben, diese Zahl kann noch wachsen, wenn erst einmal alle Asylanträge abgearbeitet sind. Insgesamt aber sind das verkraftbare, um nicht zu sagen lächerliche Größen. Wer meint, mit dem Mini-Rädchen "Elternnachzug" den Strom der Flüchtlinge spürbar drosseln zu können, macht sich etwas vor.

"Elternnachzug" ist zum neuen Kampfbegriff geworden

Es irrt aber auch, wer sich die Flüchtlinge, um die es geht, nur als weinende Kinder vorstellt, die ihre Mama verloren haben. Die gibt es, ihre Schicksale sind schlimm. Die weitaus größere Zahl aber, das sind Teenager, die sich der Volljährigkeit nähern, sie womöglich schon erreicht haben. Verlässliche Methoden der Altersfeststellung gibt es nicht. Und ja, es wird geschwindelt, der Pass entsorgt oder gar nicht erst mit Behörden kommuniziert.

Es hilft auch nichts, darüber hinwegzusehen, dass viele Jugendliche, die sich allein nach Europa durchgekämpft haben, Gewalt und Härte kennen wie kaum ein gleichaltriger Deutscher. Eine Lehre anfangen? Asylantrag stellen? Die Eltern nachholen? Für viele sind das unüberwindbare Hürden, und dringlicher wird da oft erst einmal: Geld. Immer wieder werden junge Flüchtlinge auch von Schleppern erpresst, nach dem Motto: "Wir wissen, wo deine Mutter in Syrien wohnt. Wenn du uns kein Geld gibst, passiert ihr was."

Es braucht sich also keiner darüber zu wundern, dass ein Teil dieser Klientel - es ist ein kleiner - Mist baut, in kriminelle Milieus rutscht oder sich prostituiert. Genau deshalb aber, weil es um eine so schwierige und anfechtbare Gruppe geht, ist der Staat zu verstärktem Einsatz verpflichtet. So fordern es auch internationale Konventionen. Minderjährige haben als Minderjährige zu gelten, so lange nicht das Gegenteil bewiesen ist. Und die jungen Flüchtlinge, die es schaffen, den Elternnachzug zu organisieren, sind zu unterstützen. Es sind die Hoffnungsträger einer gefährdeten Art.

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