Flüchtlinge:Von Venezuela nach Deutschland aus Todesangst

Immer mehr Venezolaner verlassen ihre Heimat. Die Verzweiflung trägt sie sogar bis nach Deutschland - so wie Abraham Figueras. Doch darf er auch bleiben?

Reportage von Miguel Helm, Mainz

Plötzlich hört er auf zu lächeln, zu sprechen, die Erinnerung scheint ihn zurückzubringen - nach Caracas. Abraham Figueras schaut starr zur Seite, holt Luft. Dann fängt der Venezolaner an zu erzählen: "Zwei Männer sind plötzlich aus einem grauen Transporter gesprungen. Beide bewaffnet. Der eine zielt auf die Brust meines Bruders und feuert aus nächster Nähe ab. Zweimal."

Die politische und wirtschaftliche Krise in Venezuela nimmt kein Ende. Staatschef Nicolás Maduro regiert zunehmend autoritär, seit Monaten kommt es zu Massenprotesten, wachsender Armut und Chaos. Viele Menschen sind verzweifelt, sehen in ihrem Land keine Zukunft mehr für sich - und fliehen. Hunderttausend haben das Land in den vergangenen beiden Jahren verlassen. Bis zur Jahreshälfte 2017 haben nach Angaben des UNHCR bereits mehr als 50 000 Venzolaner einen Asylantrag gestellt. Es ist in der Geschichte Lateinamerikas ein beispielloser Exodus.

Manche treibt das Chaos sogar bis in das achttausend Kilometer entfernte Deutschland. So wie den 24-jährigen Abraham Figueras. Nun sitzt er auf einer Parkbank am Mainzer Rheinufer, es ist einer seiner Lieblingsorte in seiner neuen Heimat. Beim Reden gestikuliert der beleibte Venezolaner energisch mit seinen Händen. Als wolle er sichergehen, dass man ihm seine Geschichte auch wirklich glaubt. Nach dem zweiten Schuss auf seinen Bruder habe er sich auf den Boden geworfen und geschrien. "Gott, bitte mach, dass das gerade nicht wirklich passiert."

Waren es 2015 nur 21 Venezolaner, die in Deutschland Asyl beantragt haben, hat sich diese Zahl im Jahr darauf schon mehr als vervierfacht - auf 88. Und allein bis Juli haben 2017 bereits 78 Venezolaner hier Asyl beantragt. Es sind keine großen Zahlen, aber sie zeigen, wie sich die Situation in dem lateinamerikanischen Land immer mehr zuspitzt.

Figueras ist ein fröhlicher Mensch, aber im Gespräch wird er oft bitterernst. Er vermutet: Die beiden Männer aus dem Transporter gehörten einer venezolanischen Polizeieinheit an. Und - da ist er sich ganz sicher: sie wollten ihn und seinen Bruder Elias töten. "Weil wir uns weigerten, an Märschen und Kundgebungen für das sozialistische Regime von Präsident Nicolás Maduro teilzunehmen."

Flüchtlinge: Abraham Figueras: "Gott, bitte mach, dass das gerade nicht wirklich passiert."

Abraham Figueras: "Gott, bitte mach, dass das gerade nicht wirklich passiert."

(Foto: Miguel Helm)

Die Brüder Abraham und Elias Figueras überlebten den Angriff. Aber das Leben in Venezuela wurde für sie zu einer ständigen Gefahr. "Ich wollte nicht mehr mein Haus verlassen, weil ich viel zu große Angst hatte, dass sie diesmal auf mich schießen und mich töten", sagt Figueras. Seine Familie habe gerade so viel Geld gehabt, um zu überleben, berichtet er. Wochenlang gab es nur Reis, ohne Beilagen, einfach nur Reis. Im Oktober reiste er nach Deutschland und wenig später beantragte er Asyl.

Über den Stand des Asylverfahrens redet Abraham Figueras nicht gerne. Er hat alle seine Dokumente dabei, sie sind in einem großen Leitz-Ordner und wirken akkurat sortiert. Der schwarzhaarige Figueras blättert darin. Dann macht er den Klemmbügel auf, zieht einen mehrseitigen Brief mit blauem Stempel aus der Klarsichtfolie heraus. Und sagt: "Als ich dieses Schreiben vom Bamf bekommen habe, ist meine Welt untergegangen." Es ist die Ablehnung seines Asylantrags.

UNHCR fodert, keinen Flüchtling nach Venezuela zurückzuschicken

Die meisten Asylanträge aus Venezuela lehnt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ab. Nur 29,8 Prozent wurden im Zeitraum von Januar bis Juni 2017 als Flüchtlinge anerkannt, erhielten subsidiären Schutz oder ein Abschiebeverbot. Die Mehrheit wurde aufgefordert, Deutschland zu verlassen und in die Heimat zurückzukehren. Die aktuelle Situation in Venezuela werde zwar ständig beobachtet, sagt ein Sprecher des Bamf. Aber in erster Linie seien die individuellen Fluchtursachen entscheidend, man könne nicht sagen, dass in ein Land generell nicht abgeschoben werden dürfen. Das gelte auch für Venezuela.

Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), fordert hingegen, "alle Länder mit venezolanischen Flüchtlingen nachdrücklich auf, die Menschen in der gegenwärtigen Situation nicht in ihre Heimat zurückzuschicken".

Sprachkurs in der Evangelischen Studierenden Gemeinde in Mainz. Abraham Figueras sitzt aufrecht und hochkonzentriert neben zwei asiatischen Studentinnen. Sein Blick irrt verloren durch den Raum, während die aufgedrehte Lehrerin an der Tafel hin und her springt und über Adverbialkonstruktionen spricht. Figueras kommt nicht mit, das macht ihn sichtlich nervös. Er kritzelt verzweifelt zusammenhangslose Wörter mit seinem alten, stumpfen Bleistift in seinen Block. "Es ist mein Traum, gut deutsch zu können", hat er noch vor der Deutschstunde gesagt. "Weil ich nicht nach Venezuela zurück will."

Gegen die Ablehnung seines Asylbescheids hat der 24-Jährige Klage eingereicht. Seine Begründung: Bei der Anhörung mit einem Mitarbeiter des Bamf sei es zu Missverständnissen und Übersetzungsfehlern gekommen. Außerdem konnte keiner direkt vom Spanischen ins Deutsche übersetzen. Und so sei es zur Kuriosität gekommen, dass eine Übersetzerin vom Spanischen ins Arabische und die andere vom Arabischen ins Deutsche übersetzt habe. "Die haben meine Aussagen stellenweise ganz verkehrt übersetzt."

Er bekam Recht, im Februar wurde er erneut interviewt. Seitdem wartet er. "Ich weiß nicht, was ich mache, wenn sie mich nochmal ablehnen", sagt Figueras. Er befürchtet, bei einer Abschiebung in seine Heimat entführt und getötet zu werden, sobald die venezolanischen Behörden von seinem Asylantrag in Deutschland mitbekämen.

Cecilia Rodriguez' Asylverfahren hingegen ist durch, das Bamf hat die Venezolanerin als Flüchtling anerkannt. Seit März lebt die Fotojournalistin in Deutschland. Sie sei in Venezuela verfolgt worden, weil sie über die Proteste gegen den Präsidenten Nicolás Maduro in Caracas berichtet habe, sagt die 47-Jährige.

Nach ihren Aussagen haben venezolanische Regierungstruppen sie mehr als ein Dutzend Mal bei Verhören geschlagen und misshandelt. "Ich dachte, sie bringen mich um", erinnert sich die Fotografin. Erst sei sie nach Panama geflohen, aber auch dort verfolgte man sie. Rodriguez geht davon aus, dass es zwischen den Polzeibehörden Panamas und Venezuelas Absprachen gebe.

Venezuelas Nachbarländer sind mit Situation überfordert

Die meisten Venezolaner fliehen in süd- und lateinamerikanische Nachbarländer, allerdings ohne dort registriert zu werden, geschweige denn einen Asylantrag zu stellen. Der UNHCR geht davon aus, dass mittlerweile über 300 000 Venezolaner nach Kolumbien und mehr als 30 000 nach Brasilien geflohen sind.

"Die venezolanischen Nachbarstaaten haben aber überhaupt keine Infrastruktur, um so viele Menschen aufzunehmen. Kolumbien und Brasilien sind damit zum Beispiel überfordert", sagt Vitor Mijares, venezolanischer Politikwissenschaftler an der Pontificia Universidad Javeriana in Kolumbien. Auch nach Spanien sind in den vergangenen beiden Jahren mehrere Tausende Venezolaner geflüchtet.

"Um mein Leben zu retten, musste ich in ein Land, das keine Verbindungen zum Maduro-Regime hat. Bei den venezolanischen Nachbarländern kann man das nicht genau sagen, bei Spanien wusste ich es auch nicht." Deswegen sei die Fotojournalistin Cecilia Rodriguez, die mittlerweile im sächschichen Zschopau lebt, nach Deutschland gekommen. Gekannt habe sie hier vor ihrer Ankunft niemanden.

Anders als Abraham Figueras: Über seinen Gemeindepfarrer in Caracas hatte er Kontakt zu einem Pastor in Deutschland. Diesen hat der Venezolaner angerufen - und seinen Wunsch geäußert, das Land zu verlassen. "Er bot mir an, eine Weile bei ihm in Rüsselsheim zu bleiben", sagt der 24-Jährige. Daraufhin habe er gespart und den Flug nach Deutschland bezahlt. Der Venezolaner deutet mit beiden Händen auf sich: "Für meine Zukunft."

"Ich liebe mein Land wie ein Verrückter", sagt Abraham Figueras, aber an eine Zukunft in seiner Heimat glaubt er nicht. Zu tiefgreifend die Pläne zur Verfassungsänderung von Präsident Nicolás Maduro, die drohenden Sanktionen der USA, die eskalierenden Proteste. Abraham stockt, berichtet dann von seiner Mutter, seinem angeschossenen Bruder und seinen anderen Geschwistern. Sie sind immer noch in Caracas. "Ich habe Angst um sie."

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