Flüchtlinge und Polizisten:Willkommen in Deutschland

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Zelle in der Aachener Bundespolizeiinspektion: Hier werden die Aufgegriffenen durchsucht. Straftäter und Flüchtlinge, die in ein anderes EU-Land abgeschoben werden sollen und vorher untertauchen könnten, werden hier festgehalten.

(Foto: Jannis Brühl)

Die ersten Deutschen, denen Flüchtlinge begegnen, sind oft Polizisten. Besuch an der Grenze zu Belgien, in der Welt der Schleierfahndung, Einzelzellen und Ratlosigkeit.

Von Jannis Brühl, Aachen

Der Einarmige weiß nicht, wo er ist. "Alman? Alman?", ruft er ungläubig auf Dari. "Ja, das ist Deutschland hier", sagt Bernd Küppers, der Bundespolizist. Da lächelt der Afghane in dem verschwitzten Unterhemd, aus dessen Ärmel ein Stumpf aus Fleisch ragt, das einzige Mal. Eben hat er in der Inspektion der Bundespolizei in Aachen jeden seiner fünf verbliebenen Finger auf eine kleine Box gelegt, die auf einem Tisch steht. Das System speichert seine Abdrücke. Der deutsche Staat weiß jetzt, dass er da ist.

Er ist der erste von fast zwei Dutzend Ausländern, die an diesem Sonntag von den Polizisten als illegal Eingereiste aufgegriffen werden. Um 10:36 Uhr ist er mit dem Schnellzug Thalys aus Paris und Brüssel angekommen. Aachen ist der erste Stopp in Deutschland, am Bahnsteig haben Küppers' Kollegen gewartet und sind in den Zug gestiegen. Vier Beamte, drei Minuten, zwei "Treffer": der Afghane und ein junger Iraker. Beide müde, beide allein, beide haben nur eine kleine Flasche Wasser dabei und einen Rucksack. In dem des Afghanen finden die Beamten einen Zettel: "Bitte helfen Sie mir."

Hunderttausende fliehen vor Krieg, Hunger und Armut nach Deutschland. Die ersten Deutschen, die vielen von ihnen begegnen, sind Bundespolizisten. Zu denen sagen sie das "Zauberwort", wie Küppers es nennt: "Asyl." In Zügen, Autos und an der grünen Grenze suchen die Beamten nach Reisenden mit Drogen, Waffen oder der falschen Nationalität. Früher hieß die Truppe Bundesgrenzschutz, heute soll der Schengen-Raum grenzenlos sein. Aber für die, die aus ihrer fernen Heimat geflüchtet sind, gibt es noch eine Grenze. Eine, die man nicht sieht. Den Schleier.

Er beginnt hier, wenige Meter von Belgien und den Niederlanden entfernt. Und mit ihm das deutsche Asylsystem. Es erfasst Menschen, durchleuchtet sie, bringt sie unter. Teilt Ausländer in erwünschte und unerwünschte auf - und schickt die unerwünschten wieder aus dem Land. Bis sie ihren Antrag stellen, sind Flüchtlinge nur illegal Eingereiste. Von der Grenze bis 30 Kilometer ins Landesinnere hinein dürfen die Polizisten Menschen, die ohne gültige Papiere einreisen, aus dem Strom der Grenzgänger fischen. "Migrationskontrolle" heißt das. 100 Polizisten aus Aachen überwachen 204 Kilometer Grenze.

Leibesvisitation, Handscan, Fotos - alles wird erfasst

Mittlerweile nehme die Migrationskontrolle zwei Drittel der Arbeit in Anspruch, sagt Küppers. Der 47-Jährige ist Polizeioberkommissar und Pressesprecher der Inspektion. Die Zahl der Asylgesuche an seine Dienststelle ist 2014 um 70 Prozent gestiegen. Dieses Jahr werden es noch mehr. Wenn Küppers von Flüchtlingen spricht, wirkt er resigniert. Die Schlepperbanden sind meist einen Schritt voraus.

In der Inspektion am Aachener Hauptbahnhof zieht sich ein Polizist blaue Gummihandschuhe über und verschwindet in einer gekachelten Einzelzelle. Dort muss sich der Mann aus Afghanistan ausziehen. Leibesvisitation. Die "erkennungsdienstliche Behandlung" findet im Raum daneben statt: Handscan, Fotos, Körpergröße messen. Vorerst in der Zelle bleiben soll der Iraker aus dem Zug. Angeblich besteht Fluchtgefahr. Er hat den Polizisten eine unglaubwürdige Geschichte erzählt. Und sein bulgarischer Flüchtlingspass erlaubt ihm nicht, nach Deutschland zu reisen.

"Nicht mein Problem, sondern das vom Flughafen in Paris", sagt er auf Englisch. Dort sei er ja durchgekommen. "Nein, dein Problem", sagt Küppers. Der junge Mann protestiert halbherzig, als ihn ein Polizist zur Vernehmung führt. Wolfgang Betz, der Dienstgruppenleiter, sagt: "Wir setzen ihn morgen Früh in den Flieger nach Bulgarien." Diese Abschiebungen innerhalb der EU hat der Bundestag Anfang Juli erleichtert. Bulgarien ist zuständig, es ist das Land der Union, in dem der Iraker zuerst erfasst worden ist. Später wird er auch in Deutschland Asyl beantragen. Weil sein Fall erst geprüft werden muss, fliegt die Maschine dann doch ohne ihn.

Stress an der Grenze

Die Schleierfahndung in Zeiten steigender Flüchtlingszahlen beginnt die Bundespolizei zu überfordern. Der Chef der Gewerkschaft der Polizei hat sich bei Innenminister Thomas de Maizière beschwert, die Polizisten fühlten sich als "bloße Einwanderungsregistratur". "Das ist natürlich mit Stress verbunden. Wir haben das gleiche Personal, die Flüchtlinge werden immer mehr", sagt Daniel Neumann, der seinen echten Namen nicht veröffentlicht sehen will.

Der 38-jährige Hauptmeister ist für die Autobahn zuständig, zusammen mit dem 28-jährigen Dominik Tombers. In schusssicheren Westen über T-Shirts, mit Pistolen und verspiegelten Sport-Sonnenbrillen - am heißesten Wochenende des Jahres bitter nötig - sehen sie aus wie aus einem Actionfilm. Dabei besteht ein großer Teil ihres Jobs aus Warten. Neumann und Tombers sitzen im Streifenwagen auf einem Parkplatz und schauen auf die A 44, in den Strom vorbeifahrender Autos.

Sie haben etwa drei Sekunden pro Auto, folgen ihm mit den Augen durch ihr Sichtfeld. Links-rechts, links-rechts. Die Sonne brennt. Im Radio singen die Eagles: "This could be heaven or this could be hell." Plötzlich zeigt Tombers auf ein vorbeischießendes Auto: "Der da." Neumann fährt auf die Autobahn, beschleunigt auf 160. Sie überholen, Blaulicht, auf dem Dach leuchten die Wörter: Bitte folgen. Doch die Kontrolle am nächsten Rastplatz, unter den neugierigen Blicken halbnackter Trucker auf Campingstühlen, fördert keine Flüchtlinge oder gar Schleuser zu Tage. In dem Volvo sitzen nur bärtige Belgier, die in die Sonne blinzeln.

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Hand- und Fingerabdruckscanner in Aachen: Die Bundespolizisten prüfen in Datenbanken, ob gegen die Aufgegriffenen etwas vorliegt oder ob sie schon in einem anderen EU-Land erfasst sind.

(Foto: Jannis Brühl)

Eine Viertelstunde später halten Neumann und Tombers ein Auto mit Kölner Kennzeichen an. Auch die vier Rumänen an Bord können bald weiterfahren, sie sind ja EU-Bürger. Alle haben schwarze Haare. Was zur Frage führt: Wer wird eigentlich am häufigsten kontrolliert?

Umstrittene Kontrollen dunkelhäutiger Menschen

Zwei Paragrafen im Bundespolizeigesetz erlauben verdachtsunabhängige Kontrollen. Aber wenn die Kontrollierten sich nicht verdächtig verhalten, nach welchen Kriterien werden sie dann ausgewählt? Mehrere Klagen dunkelhäutiger Deutscher gegen die Bundespolizei laufen. Sie fühlen sich diskriminiert, weil sie nur wegen ihrer Hautfarbe kontrolliert würden. Marei Pelzer von Pro Asyl sagt: "Verdachtsunabhängige Kontrollen führen bei Flüchtlingen zu racial profiling", dem Fokus auf Menschen mit bestimmten ethnischen Hintergrund. Küppers sagt: "Wir sind keine Rassisten."

Doch ist es eine Art offenes Geheimnis bei der Bundespolizei, dass Menschen, die augenscheinlich aus südlichen Ländern stammen, öfter kontrolliert werden. Neumann murmelt etwas von "europäischem Aussehen", das Teil des Rasters sei. Sein Partner Tombers sagt lieber, er gehe da nach "Bauchgefühl".

Die Pässe der drei Franzosen im Reisebus aus Portugal prüft Tombers ganz genau. Die drei sind schwarz, eine der Frauen trägt Kopftuch. Küppers kommentiert: "Auch französische Pässe können gefälscht sein."

Es ist Nachmittag, kurz zuvor ist unter den Bundespolizisten Hektik ausgebrochen, als sie per Funk über die Ankunft von Reisebussen aus Richtung Belgien informiert worden sind. Die Beamten, die in der Außenstelle nahe der Autobahn eben noch über den Islamischen Staat gefachsimpelt haben, sind aufgesprungen, die Streifenwagen losgeschossen. Binnen 15 Minuten halten sie drei Reisebusse an und überprüfen alle Passagiere.

"Der Beweis, dass Dublin nicht funktioniert"

Sie werden fündig. Aus den Bussen steigen: zwei Männer und zwei Frauen aus Guinea, kaum volljährig. Ein Junge aus dem Tschad, ein Tansanier. Eine siebenköpfige Familie aus Syrien, die Frau hält ihre kleine Tochter im Arm. Und, aus dem anderen Bus, ein Paar aus Bosnien.

"Du willst wohl heute die 20 voll kriegen", sagt Dienstgruppenleiter Betz zu Küppers und lacht. Grenzschützerhumor.

Ein Polizist schüttelt einem Busfahrer zur Verabschiedung die Hand, man sieht sich ja nächsten Sonntag wieder. Es ist ein gewohntes Ritual für alle, außer für die Flüchtlinge.

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In diesem Raum werden in Aachen Flüchtlinge fotografiert, gemessen und ihre Fingerabdrücke genommen.

(Foto: Jannis Brühl)

Die sitzen nun in dem Raum, der eigentlich für Polizeischulungen gedacht ist. Er ist zum Wartezimmer umfunktioniert. Die syrische Familie flüstert miteinander. Das Mädchen spielt mit einem Schwein aus Plüsch, das hier zur Kinderbespaßung herumliegt. Die Guineer diktieren einer Polizistin auf Französisch ihre Daten. Dann werden sie einer nach dem anderen "behandelt": Durchsuchung, Fingerabdrücke, Fotos. Alle ertragen es stoisch, nur der Tansanier mit den Rastazöpfen und der Muschel-Kette um den Hals wippt in einem unhörbaren Takt, während er ins Leere schaut.

Ein Polizist kopiert Papiere, eins hält er hoch: "Das ist der Beweis, dass Dublin nicht funktioniert." Es ist eine Bescheinigung aus Spanien, das Eurodac-System hat sie ausgespuckt. In der Datenbank sind die Fingerabdrücke illegal in die EU Eingereister gespeichert. Der junge Bosnier in dem Stars-&-Stripes-Shirt, der so unwillig seine Hände zum Scannen ausgestreckt hat, ist schon in Spanien erfasst. Er wird wohl zurückgeschickt.

"Das ist wie beim Angeln"

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Die Toilette in der Aachener Polizeiinspektion hat keine Spülung. Damit keiner Drogen oder Waffen verschwinden lässt, sagt Bernd Küppers. "Das sind ja nicht alles nur gute Leute. Da sind auch ein paar Bösewichte dabei."

(Foto: Jannis Brühl)

Viele Bundespolizisten sind überzeugt, dass die Staaten an den EU-Außengrenzen Flüchtlinge bewusst weiterziehen lassen, weil sie ja ohnehin nach Deutschland wollen. Aber jetzt erfassen auch die deutschen Beamten nicht mehr alle Neuankömmlinge. In Bayern, wo die meisten ankommen, schicken sie Hunderte Flüchtlinge weiter, ohne ihre Fingerabdrücke genommen zu haben.

Für die meisten Neuankömmlinge ist Aachen Zwischenstation. Die Polizisten drücken ihnen eine Bescheinigung in die Hand und schicken sie zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach Dortmund.

Manchmal kommen Flüchtlinge von selbst zu den Aachener Polizisten. Wie die junge Frau aus dem Sudan, die plötzlich vor der Tür stand. Vor ihrer Flucht war sie von einer Bande vergewaltigt worden. Als sie schwanger wurde, schnitten ihr die Männer das Baby aus dem Bauch. Oder eine syrische Familie. In Bayern hätten sie gehört, dass die Aachener mit Flüchtlingen besser umgingen, erzählt Ingeborg Heck-Böckler von Amnesty International in Aachen.

Kurz vor den Kontrollen, während die Polizisten in der Außenstelle noch auf die fast jeden Sonntag fahrenden Busse warten, kehrt kurz mal Stille ein. Ein seltener ruhiger Moment. Nur der Ventilator rattert. Es ist zu heiß, um viel zu reden. Bis einer in die Stille sagt: "Das ist wie beim Angeln: Warten, bis der Fisch anbeißt." Sein Kollege antwortet: "Nur dass man weiß, dass er anbeißt."

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