Flüchtlinge:Türkei wird zur Sackgasse

Jahresrückblick 2015 - Bewegende Bilder

Ein Flüchtling erreicht die Küste von Lesbos. Erstmals soll die Zahl im November gesunken sein.

(Foto: dpa)
  • Laut Flüchtlingshilfswerk UNHCR kamen diesen November erstmals weniger Flüchtlinge auf der Mittelmeerinsel Lesbos an.
  • Dies könnte einerseits mit dem schlechter werdenden Wetter zusammenhängen oder andererseits mit den Bemühungen der Türkei, ihre Grenzen besser zu schützen.
  • Informationen von Hilfsorganisationen und Medienberichten zufolge hält die Türkei einerseits vermehrt Flüchtlinge zurück, das Land zu verlassen und verriegelt andererseits die Grenze zu Syrien.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Es war schon schlimm genug, nicht zu wissen, wo die Lebenden alle hin sollen. Und dann wurde auf der griechischen Insel Lesbos auch noch der Platz für die Toten knapp. Für jene, die die riskante Überfahrt von der Türkei nach Griechenland nicht geschafft haben, sie mussten ja irgendwo beerdigt werden. Dieses Jahr hat viele Mahnmale hervorgebracht: die Gräber auf den Friedhöfen.

Marios Andriotis, im Bürgermeisteramt der Hafenstadt Mytilini seit einigen Monaten zum Flüchtlingsexperten herangereift, wird durchatmen, wenn dieses Jahr vorüber ist. 433 938 Flüchtlinge kamen 2015 bisher auf die Insel. Viele spülte das Meer regelrecht ans Ufer, entkräftet, erschöpft. Voller Hoffnung die einen, voller Trauer die anderen. Hunderte kamen um. Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR führt Statistiken. Dieser November ist der erste Monat, in dem weniger Menschen ankamen als zuvor. Im Oktober waren es auf Lesbos im Schnitt 4400 Flüchtlinge am Tag gewesen. Im November fiel die Zahl auf 3200. Das ist immer noch viel für so eine Insel, die selbst nicht einmal 100 000 Einwohner hat.

Aber Andriotis glaubt, dass Lesbos jetzt mal durchatmen kann. Das liegt nicht daran, dass die Welt friedlicher geworden wäre, im Gegenteil. Das Bürgerkriegsland Syrien kommt nicht zur Ruhe. Es ist einerseits das Wetter, das schlechter wird. Es hält Flüchtlinge davon ab, sich aufzumachen. Und, glaubt man Andriotis, dann ist es ausgerechnet die Türkei, die Europa nun zu Hilfe kommt und viele Flüchtlinge daran hindert, durchzukommen. "Es ist ganz offensichtlich, dass die Türkei versucht, ihr Versprechen einzulösen, die Grenze besser zu schützen", sagt Andriotis.

Am Sonntag erst war der türkische Premier Ahmet Davutoğlu nach Brüssel zum Flüchtlingsgipfel gereist. Die Flüchtlingskrise hat die Türkei in eine Schlüsselrolle versetzt. Der Großteil der Menschen, die aus Syrien und dem Irak fliehen, kommt über die Türkei. 2,2 Millionen Syrer hat das Land aufgenommen, dazu 200 000 Iraker. Wer die Flüchtlinge stoppen will, kommt an Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nicht vorbei. Die EU verspricht ihm visafreies Reisen, drei Milliarden Euro Flüchtlingshilfe und neue Gespräche über einen EU-Beitritt, nachdem lange nichts vorangegangen ist. Alles was er dafür tun soll, ist: Flüchtlinge von Europa fernhalten.

Die Menschen können nicht mehr ungestört in Boote steigen

Es dürfte kein Zufall sein, dass die türkische Küstenwache und Gendarmerie am Tag des Gipfels in Brüssel morgens mit 250 Mann ausrückten, um gegen Menschenschmuggler vorzugehen. An acht Orten in der Küstenprovinz Çanakkale griffen sie zu. Drei Schlepper wurden festgenommen, vier Boote beschlagnahmt. Für fast 1500 Flüchtlinge endete die Reise. Sie wurden ins Abschiebezentrum Ayvacık gebracht, das gar nicht für so viele Menschen ausgelegt ist. Leyla Yavuz vom Menschenrechtsverein Çanakkale sagt, es sei das erste Mal, das sie einen solchen Einsatz erlebt habe. Normalerweise könne man dabei zuschauen, wie die Flüchtlinge in die Boote stiegen. Ein Kurswechsel in der türkischen Flüchtlingspolitik? Es sei zu früh, um das zu bewerten, sagt sie.

Der Einsatz in Çanakkale blieb jedenfalls nicht der einzige. In der Kleinstadt Ezine setzte die Polizei 113 Syrer und drei Menschenschmuggler fest. 57 Flüchtlinge, die schon im Boot nach Lesbos saßen, holte die Küstenwache zurück. Auch sie kamen in das Abschiebezentrum. "Wir möchten wissen, wohin sie danach gebracht werden", erklärte der Menschenrechtsverein. In den türkischen Zeitungen liest man zudem von 80 aufgegriffenen Flüchtlingen in der Provinz Kırklareli, von 100 Pakistanern und Afghanen in Bodrum, deren Flucht in der Türkei endete, und von 15 inhaftierten Menschenschmugglern in der Provinz Hatay an der Grenze zu Syrien.

Tsipras erlaubte sich einen bitteren Scherz in Richtung Türkei

Ein Regierungsbeamter sagte der Süddeutschen Zeitung, die Türkei reagiere nicht, weil die EU das so wolle. Sie gehe schon seit Längerem stärker gegen Menschenhändler vor. Dafür sprechen Statistiken der türkischen Küstenwache, denen zufolge die Zahl die Einsätze bereits im Sommer in die Höhe schnellte. Athen hatte schon lange beklagt, dass die türkische Küstenwache Flüchtlinge quasi bis in griechische Gewässer begleite. Premier Alexis Tsipras hatte sich am Rande des Klimagipfels in Paris noch einen bitteren Scherz erlaubt. Die beiden rivalisierenden Länder Türkei und Griechenland leisteten sich einerseits hochgerüstete Armeen, seien aber außerstande, den Schlepperbanden das Handwerk zu legen, schrieb er auf Twitter.

Die Türken wollen diesen Vorwurf offenbar nicht auf sich sitzen lassen. Jetzt wird die Türkei offenbar zur Sackgasse für Flüchtlinge. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch kritisiert, die türkisch-syrische Grenze sei für Flüchtlinge praktisch geschlossen. Sie hat Ende Oktober mit 51 Flüchtlingen Interviews geführt und dokumentiert. Eine 34-jährige syrische Mutter erzählt, wie ihre Familie an die Grenze reiste und dann nicht weiterkam. Sie und 20 andere Flüchtlinge hätten sich schließlich in die Hände eines Schmugglers begeben. Es seien Schüsse gefallen, die Gruppe habe sich getrennt. Sie schaffte es in die Türkei, sie vermisse aber ihren Vater und fünf Kinder. Andere berichten, wie sie an der Grenze mit Gewalt zurückgedrängt worden seien. Eine Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR sagte der SZ, sie habe zwar keine Erkenntnisse darüber, dass die Flüchtlinge systematisch nach Syrien zurückgedrängt würden. Die Grenzen würden aber besser bewacht.

Wer es in die Türkei geschafft hat, kann sich zumindest einigermaßen sicher fühlen. Im Südosten des Landes gibt es wegen des neu entfachten Konflikts mit der kurdischen Terrororganisation PKK zwar vielerorts Unruhen. Flüchtlinge aber werden in der Regel nicht angegriffen. Obwohl das Land mehr als zwei Millionen Syrer beherbergt, halten sich auch die sozialen Spannungen in Grenzen. Das sagt einerseits viel über die Hilfsbereitschaft der türkischen Gesellschaft aus.

Anderseits kann so viel Gastfreundschaft nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der Türkei eine "verlorene Generation" heranwächst. 400 000 syrische Flüchtlingskinder besuchen laut Human Rights Watch keine Schule. Die Türkei hat die Menschen zwar aufgenommen. Für deren Integration aber hat sie noch keinen Plan.

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