Flüchtlinge:"Tatsächlich sind sehr, sehr viele Frauen und Kinder unterwegs"

  • Immer mehr Frauen, Kinder und Jugendliche flüchten über das Mittelmeer nach Europa. Inzwischen übersteigt ihre Zahl dem UNHCR zufolge die der erwachsenen, männlichen Flüchtlinge.
  • Flüchtlings- und Menschenrechtsgruppen befürchten, dass die Pläne der Bundesregierung zum Familiennachzug die Entwicklung noch verstärken könnten.
  • An der griechisch-mazedonischen Grenze sind Babynahrung, Windeln und Kinderkleidung zunehmend gefragt.

Von Barbara Galaktionow

Die Mehrheit der Flüchtlinge, die in den vergangenen Jahren in Europa und Deutschland ankamen, waren Männer. Das galt für die Schutzsuchenden, die im Hochsommer 2015 über das Mittelmeer nach Griechenland flohen - mehr als zwei Drittel von ihnen waren nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) männliche Erwachsene (siehe die untenstehende Grafik). Auch in Deutschland waren mehr als die Hälfte der Menschen, die 2015 einen Asylantrag stellten, Männer über 17 Jahre - nämlich 250 000 von knapp 477 000 Menschen.

Dafür, dass sich überwiegend Männer auf den gefahrvollen Weg nach Europa machten, gibt es nachvollziehbare Gründe. Sie sind im Allgemeinen körperlich stärker als Frauen und in den betroffenen Herkunftsstaaten zudem meist besser ausgebildet. Sie scheinen also besser gerüstet für eine Reise ins Ungewisse und die Arbeitssuche in einem Aufnahmestaat (mehr dazu hier).

Trotzdem hat sich das Bild in den vergangenen Monaten zunehmend gewandelt. "Tatsächlich sind sehr, sehr viele Frauen und Kinder unterwegs", berichtet Flüchtlingshelferin Johanna aus Deutschland, die wir über eine Telefonnummer von Solidarity with Refugees erreichen, einem losen Zusammenschluss freiwilliger Helfer an der mazedonisch-griechischen Grenze. Johanna spricht ausführlich über ihre Tätigkeit dort, will ihren vollständigen Namen aber nicht im Artikel veröffentlicht haben.

Sie kocht im griechischen Idomeni täglich Essen für Tausende Flüchtlinge, gibt Kleider aus oder andere Dinge des täglichen Bedarfs. Der Grenzort Idomeni ist der Beginn der sogenannten Balkanroute, auf der täglich Tausende versuchen, weiter nach Norden zu gelangen (Oliver Das Gupta besuchte den Grenzort in der ersten Januarhälfte - hier seine Reportage).

"Wir geben deutlich mehr Babynahrung raus", sagt Johanna. Das gelte auch für Windeln oder Strampler. Am Dienstagabend habe sie sogar Spätnachts noch Kinderschlafsäcke verteilt. Die Helferin kann allerdings nur ihren persönlichen Eindruck wiedergeben.

Woher die Flüchtlingskinder kommen

Konkrete Zahlen gibt es vom UNHCR. Demnach hat sich der Anteil der Frauen und Minderjährigen an den Flüchtlingen in den vergangenen Monaten stetig erhöht. Im Januar bildeten sie zusammen sogar eine Mehrheit der Menschen, die den riskanten Weg per Boot nach Griechenland nahmen. 36 Prozent der Schutzsuchenden waren zuletzt Kinder oder Jugendliche, 21 Prozent Frauen, 43 Prozent Männer.

Vor allem aus den kriegsgebeutelten Staaten des Nahen Ostens kommen der UNHCR-Statistik zufolge besonders viele Kinder, Jugendliche und Frauen übers Meer nach Europa. Jeweils 40 Prozent der Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak waren im Januar minderjährig, jeweils mehr als 20 Prozent Frauen.

Ähnlich sieht die Lage für den Herkunftsstaat Afghanistan aus (35 Prozent Minderjährige, 18 Prozent Frauen). Auch die Zahlen der Flüchtlingsfrauen und -kinder aus Marokko sind deutlich angewachsen, liegen aber trotzdem noch deutlich unter diesen Werten (11 Prozent Kinder und Jugendliche, 16 Prozent Frauen). Zur Situation in Deutschland befragt, kann das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) keine aktuellen Zahlen nennen.

Warum immer mehr Frauen und Kinder nach Europa flüchten

Doch wo liegen die Ursachen für den Wandel? Und spielen dabei auch die Pläne der Bundesregierung, den Familiennachzug zu erschweren, eine Rolle? Diese Pläne hat das Kabinett am Mittwoch im Zuge des Asylpakets II auf den Weg gebracht. Wegen der hohen Zahl an Flüchtlingen soll der Familiennachzug für solche mit eingeschränktem Schutz, für die kein individueller Asylgrund vorliegt, demnach für zwei Jahre ausgesetzt werden. Für Angehörige syrischer Flüchtlinge soll allerdings eine spezielle Lösung gefunden werden, wonach sie über Kontingente nach Deutschland geholt werden - Voraussetzung sind allerdings EU-Verträge.

Für Marei Pelzer, rechtspolitische Sprecherin von Pro Asyl, sind die Ursachen für die zunehmende Zahl an Flüchtlingsfrauen und -kindern klar. "Das ist eine Form des Familiennachzugs über den gefährlichen Weg", sagt sie. Frauen wollen zu ihren Ehemännern. Andere flüchten gleich gemeinsam mit ihren Männern. Und den Kindern. In ihren Herkunftsländern, aber auch in den Flüchtlingslagern in den angrenzenden Staaten, in Jordanien oder dem Libanon, hätten sie keine Perspektive.

Diese Sichtweise bestätigen auch in Deutschland lebende Flüchtlinge. Seine Familie auf legalem Weg hierher zu bringen, brauche schon jetzt viel Zeit. Und in Syrien gäbe es Tausende Familien, die ohne die Väter lebten. Und ohne Hoffnung, dass sich ihre Lage verbessere. Es gäbe darüber eine breite Diskussion unter den in Deutschland lebenden Flüchtlingen.

Pelzer von Pro Asyl zeigt sich überzeugt, dass die politischen Diskussionen in Deutschland - immerhin einem Hauptziel vieler Schutzsuchender - einen Einfluss auf die Flüchtlingsbewegungen haben. "Alle Begrenzungsdebatten werden wahrgenommen, sei es die um den Familiennachzug oder auch die um die Obergrenze", sagt sie.

Aus dem Bundesinnenministerium heißt es hingegen auf Anfrage, für einen Zusammenhang zwischen der innerstaatlichen Debatte und der Zusammensetzung der Flüchtlingsgruppe, also der vermehrten Flucht von Frauen und Kindern, lägen dort "keine Anhaltspunkte" vor.

"Das treibt die Menschen auf die Boote"

Auch bei Amnesty International zweifelt man eher daran, dass der jetzt zu beobachtende Wandel bereits mit dem geplanten Asylpaket II zusammenhängt. Wiebke Judith, Expertin für Asylrecht und Aslypolitik bei der Menschenrechtsorganisation, befürchtet aber deutliche negative Auswirkungen, wenn das Gesetz tatsächlich beschlossen wird.

Mit einer Aussetzung des Familiennachzugs werde einer der sicheren Zugangswege nach Europa eingeschränkt, sagt sie. Amnesty geht einer Mitteilung zufolge von folgendem Szenario aus: In der Praxis führt die Beschränkung des Familiennachzugs und die lange Bearbeitungszeit von Asylanträgen zu einer mehrjährigen Trennung von Familien.

"Wir gehen davon aus, dass eine Begrenzung zur Folge hat, dass mehr Menschen, die vom Familiennachzug profitieren würden, vor allem Kinder, sich auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer oder die Ägais machen", sagt Judith.

Die geplanten Kontingente seien eine Möglichkeit für sicheren und legalen Zugang nach Europa. "Sie sind aber kein Ersatz für Familiennachzug und kein Ersatz für individuelle Asylanträge, sondern können nur eine zusätzliche Maßnahme sein."

Pro Asyl hält die Kontingentlösung für "sehr wichtig", wie Sprecherin Pelzer sagt. Allerdings käme sie zeitlich zu spät. Die Debatte über die Aussetzung des Familiennachzugs und eine Obergrenze löse bei Flüchtlingsfamilien Panik aus, dass sie über lange Zeit getrennt bleiben müssten. "Das treibt die Menschen auf die Boote."

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