Flüchtlinge:Sickergruben des Populismus

Grenzkontrollen, Zäune, Tränengas: Die politischen Reaktionen auf die Flüchtlingskrise bedrohen die Werte Europas. Daran sind nicht nur die Osteuropäer schuld.

Von Philipp Ther

Zaun an ungarischer Grenze

Ein ungarischer Soldat schließt ein Tor im Grenzzaun zu Serbien

(Foto: dpa)

Die Erfahrung von 1989 lehrt, dass Systemveränderungen so schnell passieren können, dass die Politik und die Gesellschaften kaum Schritt halten und sich die Prozesse einer staatlichen Steuerung entziehen. Die EU-Staaten und die Bundesrepublik sind aufgrund der Flüchtlingskrise möglicherweise jetzt wieder an diesem Punkt angekommen. Wie diverse Flüchtlingsgipfel und der Streit um die Aufnahmequoten gezeigt haben, knirscht es im politischen Gebälk der EU.

Außerdem droht dem über Jahrzehnte errichteten europäischen Haus Schaden an seinen Fundamenten. Eine der wesentlichen Errungenschaften der Europäischen Union war und ist die Freizügigkeit ihrer Bürger. Dafür steht unter anderem das Schengen-Abkommen, das 2004 auf die neuen EU-Mitgliedsstaaten ausgeweitet wurde. Es dauerte noch einige Jahre, bis die Grenzkontrollen nach Osten wegfielen, doch am 21. Dezember 2007 präsentierte die EU-Kommission den etwa 400 Millionen Bürgern des Schengen-Raums ihre Aufhebung wie ein Weihnachtsgeschenk.

Vor allem für kleinere EU-Staaten und die vielen deutschen Grenzregionen bedeutet Schengen viel. Es ermöglicht neben bequemen Reisen einen anderen Alltag an der Grenze. Millionen Arbeitnehmer pendeln in die Nachbarstaaten, nutzen die Einkaufsmöglichkeiten oder fahren aus dem Berchtesgadener Winkel abends nach Salzburg ins Theater. Mit Schengen ist Europa von unten zusammen gewachsen.

Der Ausnahmezustand als Dauerzustand

Das ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil Schengen ein Europa der Konzerne und eine rein wirtschaftliche Ausrichtung der EU ausbalanciert. Ähnlich wie beim Euro hatten die Bürger einen Mehrwert von der vertieften Integration der Union. Genau dieser Mehrwert ist nun paradoxerweise an jener deutschen Außengrenze infrage gestellt, an der die Unterschiede im Wohlstand und der Kultur wohl am geringsten sind. Seit drei Wochen ist die Autobahn Salzburg-München, eine der wichtigsten Verkehrsadern Europas, wegen Grenzkontrollen immer wieder auf eine Spur reduziert. Kilometerlange Staus dort und an anderen Strecken sind die Folge. Der grenzüberschreitende Zugverkehr ist ebenfalls eingestellt.

Noch spricht man vom Ausnahmezustand, der aber zum Dauerzustand werden kann, will man die Flüchtlingsmigration innerhalb der EU unter Kontrolle bringen. Daher stellt sich die Frage, wann und ob das Schengen-Abkommen wieder in vollem Umfang gelten soll. Oder sind wir in einem anderen Europa angekommen?

Der Verlauf der jüngsten Wahlkämpfe in Österreich und der Debatte in Deutschland lässt Schlechtes befürchten. Schengen stand auf keinem Wahlplakat für die Landtagswahlen in Oberösterreich vor einer Woche, auch im Wiener Wahlkampf ist von Europa kaum die Rede. Aber die Rechtspopulisten von der FPÖ haben mit ihrer Vision von Europa einen Erdrutschsieg eingefahren und werden wohl auch in Wien mehr als ein Drittel der Stimmen auf sich ziehen.

"Gutmenschen" und "Invasionskollaborateure"

Entsprechend nervös ist die CSU im benachbarten Bayern. Die FPÖ wirbt für einen Zuwanderungsstopp und eine umfassende Sicherung der Grenze, also gewissermaßen für ein Anti-Schengen. Und es gibt bereits eine Eskalationsstrategie: Wenn die Grenzkontrollen nicht reichen, dann sollen Zäune gebaut und das Militär eingesetzt werden. In Ungarn ist bereits eine dritte Eskalationsstufe eingetreten, denn wenn die Grenzzäune nicht abschrecken, muss man nach der Logik der Rechtspopulisten Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse einsetzen.

Mit der eingeschränkten Mobilität wäre auch ein zweites Ziel erreicht, denn die Rechtspopulisten versprechen den Schutz der Arbeitsmärkte vor ausländischer Konkurrenz. Wer dann den 67 000 Pflegebedürftigen in Wien (Stand 2012) die Windeln wechselt oder andere Hilfsleistungen verrichtet, wenn die 16 000 in Österreich tätigen slowakischen Krankenschwestern nicht mehr so leicht ein- und ausreisen können, ist eine andere Frage - die sich auf ähnliche Weise in Berlin oder Hamburg stellt.

Aber immerhin wäre so der Schutz nationaler Werte gesichert, den die Populisten in Frontstellung gegen die vermeintlich übermächtige EU und die "Gutmenschen" im Inneren versprechen. Der FPÖ-Parlamentspressesprecher Martin Glier etwa bezeichnete die Helfer am Wiener Westbahnhof ja vor Kurzem als "Invasionskollaborateure". Die Herausforderung für die Mehrheit der Gesellschaft liegt darin, die oberflächliche Logik dieser Schutzargumente zu durchschauen und zu widersprechen, zum Beispiel mit Verweis auf die horrenden Kosten für eine umfassende Grenzsicherung.

Die wirklichen Osteuropäer sitzen in München

Die eigentliche Gefahr des Populismus liegt darin, dass seine Ideen in den politischen Mainstream einsickern. Das ist in Ungarn bereits geschehen, personifiziert durch Premier Viktor Orbán, der mit den Schutzversprechen eine Wahl nach der anderen gewonnen hat. Orbáns Zweidrittelmehrheit geht jedoch auf die Auswüchse des Neoliberalismus zurück, als er den Ungarn versprach, sie vor den Banken zu schützen. Diese hatten etwa eine Million Konsum- und Immobilienkredite in Fremdwährungen vergeben, die nach der Krise von 2009 und der Abwertung des Forint plötzlich unbezahlbar wurden. In der Slowakei ist die politische Gemengelage im Prinzip ähnlich, nur dass der dortige Premier Robert Fico eigentlich einen sozialdemokratischen Hintergrund hat.

Das Gleiche gilt für den tschechischen Staatspräsidenten Miloš Zeman, der durch islamophobe Äußerungen aufgefallen ist. Populisten festigen ihre Macht, indem sie vorhandene Ängste der Bevölkerung ausnutzen. Diese beruhen nicht zuletzt darauf, dass die Gesellschaften im östlichen Europa - ähnlich wie in Sachsen - bislang kaum Kontakt zu Muslimen hatten.

Kein Gegensatz zwischen West- und Osteuropa

Aber daraus einen Gegensatz zwischen West- und Osteuropa abzuleiten und das Bild eines nationalistischen Osteuropas an die Wand zu malen, ist irreführend. Das mag indirekt das Stereotyp eines weltoffenen Deutschlands bestätigen, aber letztlich ist die Abwertung der östlichen Nachbarn auch nur ein nationalistischer Reflex.

Polen hat mit seiner Zustimmung zur EU-Flüchtlingsquote gezeigt, dass man das östliche Europa nicht über einen Kamm scheren kann. Diese Offenheit beruht einerseits auf dem in der Solidarność verwurzelten Bürgertum, andererseits auf der Kirche, die sogar angeboten hatte, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, als dann mit der EU-Quote schließlich beschlossen wurde. In Tschechien hatten die Wirtschaftsverbände erklärt, dass man bis zu 5000 Flüchtlinge gut gebrauchen könnte. Fico geht mit der Klage gegen die Quotenregelung vor dem Europäischen Gerichtshof weiter auf Konfrontationskurs, aber auch in der Slowakei gibt es genügend zivilgesellschaftliche Organisationen, die einen anderen Kurs vertreten.

Deutschland interessierte sich nicht für Ungarns Lage

Es kommt darauf an, mit diesen Unterstützern eines offenen Europa in Kontakt zu treten und mit den "Osteuropäern" zu reden und nicht nur über sie. Das gilt sogar für die Regierung von Viktor Orbán, die man bis zum Sommer 2015 mit dem anschwellenden Strom an Flüchtlingen allein gelassen hat. Ungarn verzeichnete gemessen an seiner Bevölkerungszahl bis vor Kurzem die zweithöchste Zahl an Asylanträgen unter allen EU-Staaten. Ähnlich wie in den beiden anderen wichtigsten Transitländern, Griechenland und Italien, hat sich die deutsche Politik dafür wenig interessiert, stattdessen verwies man jahrelang auf das Dublin-Abkommen, das die erstaufnehmenden EU-Staaten dazu verpflichtet, die Flüchtlinge zu registrieren und die Asylverfahren durchzuführen. Erst als die Zustände in Budapest und in den Auffanglagern an der Grenze unhaltbar wurden, reagierte Berlin.

Zäune bauen?

Die Flüchtlingskrise beherrscht die Debatten - auch in der Redaktion der SZ. Zwei sehr unterschiedliche Sichtweisen von SZ-Redakteuren können Sie in der digitalen Ausgabe lesen: Marc-Felix Serrao propagiert für eine zumindest zeitweise Renaissance des Nationalstaats und für eine temporäre Rückkehr "zu deutschen Zäunen und Schlagbäumen". Christiane Schlötzer halt davon nichts.

Die humanitäre Geste von Angela Merkel wird in Deutschland weit mehr diskutiert als die Schließung der Grenze nur zehn Tage später. Beides war mit den ostmitteleuropäischen EU-Staaten nicht abgesprochen. Man kennt die Antwort der Kanzlerin, als ihr CSU-Chef Horst Seehofer Ähnliches vorwarf. Doch bei den EU-Staaten handelt es sich um keine Bundesländer, sie wollen auch nicht als solche behandelt werden. Gemessen daran waren die Reaktionen auf den Zickzackkurs der Bundesregierung gemäßigt.

Die wirklichen Osteuropäer, sofern man sie so zusammenfassen und mit bestimmten Vorurteilen befrachten will, sitzen ohnehin in München. Kürzlich forderte der bayerische Finanzminister Markus Söder in einem Interview eine verstärkte Kontrolle der grünen Grenze und gegebenenfalls Grenzzäune. Von Schengen und dem vereinten Europa war keine Rede mehr.

Philipp Ther ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Für sein Buch "Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent" erhielt er in diesem Frühjahr den Preis der Leipziger Buchmesse.

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