Flüchtlinge:Momente der Wahrheit

Ein Tag im Einwanderungsland Deutschland zeigt: Alle sind überfordert - sogar die Kanzlerin. Das zeigt ihr Gespräch mit einer jungen Asylbewerberin.

Von Jan Heidtmann

Ein Tag im Einwanderungsland Deutschland.: In der sächsischen Kleinstadt Böhlen wird öffentlich, dass am Wochenende Unbekannte auf ein Flüchtlingsheim geschossen haben. In Berlin tun sich mehrere Sportvereine zusammen, um gemeinsam mit Asylbewerbern Fußball zu spielen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge meldet, die Zahl der unerledigten Asylanträge habe sich im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt, 237 877 Fälle seien noch nicht entschieden. Im bayerischen Reichertshofen wird in der Nacht ein Brandanschlag auf ein künftiges Asylbewerberheim verübt. Die Erzdiözese München und Freising will 75 Asylbewerber im Kloster Beuerberg unterbringen. Angesichts der stetig steigenden Zahl von einreisenden Flüchtlingen mahnt ein Sprecher der Bundespolizei: "Wir kommen auf dem Zahnfleisch daher."

Ein Tag im Einwanderungsland Deutschland ist ein Irrsinn, der aus Tausenden Widersprüchen besteht. Aus viel Wollen und gutem Willen, aus Nicht-Mehr-Können, aus Missgunst und manchmal auch aus Hass. Wenn der Bundespräsident zur Menschlichkeit im Umgang mit den Flüchtlingen aufruft, ist das richtig. Genauso wie der dramatische Appell der Kommunen, die Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge seien komplett überlastet. Oder auch die Klage der Mutter, die neuerdings neben einem Flüchtlingsheim wohnt und deren 14-jährige Tochter von Asylbewerbern angegrapscht wurde - ein hässlicher Einzelfall, aber einer, der zeigt, wie problematisch die rasche Integration so vieler Menschen werden kann.

Kommunen, Asylbewerber, Angela Merkel - alle sind überfordert

Die einzige Struktur, die dieser Irrsinn hat, ist, dass er die bestehenden Strukturen sprengt und das Denken gleich dazu. Pragmatische Stimmen wie die des baden-württembergischen Ministerpräsidenten sind rar. Winfried Kretschmann schlägt vor, die Flüchtlinge nicht nach den bestehenden Quoten auf die Länder zu verteilen, sondern nach frei stehenden Unterbringungsmöglichkeiten, zum Beispiel in Ostdeutschland. Das kostet sicherlich Geld, aber es ist erst einmal eine Idee, von denen es mehr bräuchte. Doch noch glauben zu viele der verantwortlichen Politiker, der Strom der Flüchtlinge werde wieder abreißen. Oder sie wollen es zumindest glauben machen. Die Folge ist, dass die Beteiligten überfordert sind: Flüchtlinge, Anwohner, Bundespolizei, Kommunen. Ganz praktisch überfordert aber auch darin, nachvollziehen zu können, was da gerade in der Gesellschaft geschieht.

Selbst die Bundeskanzlerin gerät da ins Straucheln. Bei einem Gespräch mit Schülern in Rostock - der Titel, ausgerechnet: "Gut leben in Deutschland" - trifft Angela Merkel auf eine junge Asylbewerberin aus Palästina. Seit vier Jahren ist sie in Deutschland, sie spricht die Sprache, und doch soll die Familie nun abgeschoben werden. "Das ist manchmal auch hart, Politik", sagt Merkel. Das Mädchen beginnt zu weinen. Doch so traurig der Moment auch ist, er ist ein Moment unverhoffter Ehrlichkeit in einer völlig verfahrenen Lage. Um sie zu lösen, braucht es mehr solcher Momente.

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