Flüchtlinge:60 Millionen Flüchtlinge - und es werden noch mehr

Flüchtlinge: Bilder wie dieses hier an der deutsch-österreichischen Grenze gab es 2015 oft zu sehen: Flüchtlinge, die einer Karawane gleich versuchen, einem besseren Leben entgegen zu laufen.

Bilder wie dieses hier an der deutsch-österreichischen Grenze gab es 2015 oft zu sehen: Flüchtlinge, die einer Karawane gleich versuchen, einem besseren Leben entgegen zu laufen.

(Foto: Armin Weigel/dpa)

Noch nie waren so viele Menschen in aller Welt auf der Flucht. Und die Zahl wird noch steigen. Überfordert diese Tragödie die Menschheit?

Kommentar von Andrea Bachstein

Flucht kennt keine Weihnachtspause: Mehr als 18 000 Menschen sind in der Woche von Heiligabend übers Mittelmeer geflohen. Sie gehören zu den eine Million Menschen, die in diesem Jahr ihr Heil in Europa suchten. Deutschland hat den größten Teil von ihnen aufgenommen, weshalb hierzulande Flucht vor allem mit den Ereignissen vor der eigenen Haustür in Verbindung gebracht wird. Dabei wird gerne übersehen, dass der europäische Schauplatz nur den Bruchteil eines globalen Dramas abbildet.

60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, mehr als nach dem Zweiten Weltkrieg. In Europa mögen manche über die Zahl der Flüchtlinge stöhnen, tatsächlich bleiben 80 Prozent der Vertriebenen in den Grenzen ihrer Heimat oder ziehen allenfalls in ein Nachbarland. Die Not - sie ist noch nicht in Europa angekommen.

"Düster" nennen die Experten vom Assessment Capacities Project (ACAPS) in Genf die humanitären Aussichten für 2016. In elf Ländern dauern schwere humanitäre Krisen an oder zeichnen sich neue ab. Afghanistan, die Zentralafrikanische Republik, die Demokratische Republik Kongo, Irak, Libyen, Nigeria, Somalia, Südsudan, Sudan, Syrien, Jemen - meist alte Bekannte aus den Katastrophenberichten. Hunger ist nach wie vor einer der wichtigsten Gründe für eine Flucht, fast 800 Millionen Menschen leiden unter Nahrungsmangel - häufig, weil bewaffnete Konflikte die Versorgung unmöglich machen.

Kein Problem aus den vergangenen Monaten ist entschärft

Allein in Afghanistan sind etwa 1,65 Millionen Menschen vertrieben. Die Ernährung von 2,5 Millionen Menschen ist unsicher, zwei Millionen brauchen Hilfe bei der Wasserversorgung. Im Irak ist ein gutes Viertel der Bevölkerung auf Hilfe angewiesen, circa zehn Millionen Menschen. Mehr als drei Millionen sind innerhalb des Landes geflüchtet, 2,3 Millionen leben in von der Terrormiliz IS kontrollierten Gebieten. In Syrien brauchen von gut 17 Millionen Einwohnern 13,5 Millionen Hilfe, 8,7 Millionen warten auf Nahrung, und 4,5 Millionen Menschen leben in für Helfer schwer zugänglichen Gebieten. Somalia bleibt Schauplatz größter Tragödien: Gepeinigt von der Terrormiliz Al-Shabaab und anderen Kämpfern sind circa eine Million Menschen auf der Flucht. Fast fünf der gut zehn Millionen Somalier brauchen Hilfe; es mangelt an allem, auch weil das Klimaphänomen El Niño zu Missernten führt.

Die auf Spenden angewiesenen UN-Hilfsorganisationen erbaten dieser Tage mehr Geld als je: 20 Milliarden Dollar für humanitäre Hilfe. 87 Millionen Menschen in 37 Ländern sollen Hilfe erhalten. Kein Problem aus den vergangenen Monaten ist entschärft, dafür entstehen neue wie etwa in Burundi oder Jemen. Was UNHCR, Unicef oder Welthungerhilfe erbitten, ist dabei weit weg von dem, was sie bekommen. 2015 ging weniger als die Hälfte des benötigten Geldes ein, es klafft eine Finanzierungslücke von 10,2 Milliarden Dollar. Flüchtlinge bekommen deshalb weniger zu essen, Unterkünfte werden nicht gebaut, medizinische Versorgung kollabiert.

Das ist ein grober buchhalterischer Abriss der Notstände. Hilfe kostet, und zu viele Länder, Stiftungen und Unternehmen geben zu wenig, oft nicht einmal das, was sie bei Geberkonferenzen versprochen haben. Ein Großteil der Hilfefonds wird gespeist von zu wenigen Ländern: USA, Deutschland, Großbritannien, Kuwait vor allem.

Wer hier spart, hat nicht nur ein Defizit auf seiner moralischen Rechnung. Solange humanitäre Hilfe unterfinanziert ist, gibt es für niemanden Entlastung in der Flüchtlingskrise. Anfang Februar ist für Syrien eine neue Geberkonferenz geplant - Großbritannien, Deutschland, Kuwait und Norwegen laden ein. Es gehe darum, "die Welt noch einmal wachzurütteln", sagte Bundeskanzlerin Merkel. Indes: gerüttelt wird schon so lange. Meist vergebens.

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