Migration:Eiskalte Berechnungen in der Flüchtlingskrise

Migranten an der türkisch-griechischen Grenze

Flüchtlinge auf einer Landstraße in unmittelbarer Nähe der Grenze zu Griechenland.

(Foto: Mohssen Assanimoghaddam/dpa)

Die türkische Regierung setzt die Europäische Union unter Druck, indem sie mit Millionen Flüchtlingen droht, die in den Westen wollen. Die Entwicklung der Krise in Daten.

Von Markus C. Schulte von Drach

Tausende Menschen hoffen, an der Grenze zwischen Türkei und Griechenland in die EU zu gelangen. Es sind Flüchtlinge aus Syrien, aber auch aus anderen Ländern. Sie haben sich auf den Weg gemacht, nachdem die Regierung in Ankara am 27. Februar erklärte, dass sie die Grenze nicht mehr blockiert, wie es im EU-Türkei-Deal vereinbart war.

Etwa 37 000 Menschen haben griechische Grenzschützer nach Angaben der Regierung in Athen bislang am Übertreten der Grenze gehindert oder wieder zurückgeschickt.

Die Türkei hat gedroht, auch noch ihre Grenze nach Syrien für Flüchtlinge zu öffnen, die aus der syrischen Region Idlib kommen, wo syrische Truppen mit Unterstützung aus Iran und Russland auf dem Vormarsch sind. Dem türkischen Innenminister Süleyman Soylu zufolge befinden sich dort und an den türkischen Grenzen 3,5 Millionen Menschen in Not. Und die werden sich dann auf den Weg nach Europa machen, so Soylu.

Auf wen der Minister diese Zahl genau bezieht, ist unklar. In der Türkei befinden sich dem UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) zufolge etwa 3,6 Millionen Syrer.

Die übrigen Flüchtlinge aus Syrien befinden sich vor allem im Libanon, in Jordanien und Ägypten.

Auch viele Afghanen, Iraker und Iraner wollen die Türkei verlassen

Darüber hinaus leben dem UNHCR zufolge derzeit fast 330 000 Flüchtlinge und Asylsuchende anderer Nationalitäten in der Türkei.

Es sind vor allem Afghanen, die meist aus dem Iran kommen, wo sie zuerst Zuflucht gesucht haben. Teheran zwingt laut Internationaler Organisation für Migration IOM immer wieder Tausende Afghanen zur Rückkehr in die Heimat. Dies, mangelnde Unterstützung und die wirtschaftlichen Probleme in Iran haben viele dazu bewegt, in die Türkei weiterzufliehen.

Von dort aus würden viele der Afghanen gern in die Europäische Union gelangen. Das gilt aber auch viele Iraker und Iraner, die in die Türkei geflüchtet sind. Nach Syrern waren Afghanen und Iraker in den vergangenen Jahren fast immer die größte Gruppe von Asylsuchenden in der EU.

Vergleich mit 2015

Es ist schwierig, die gegenwärtige Situation mit 2015 zu vergleichen, als die Türkei die Grenzen zur EU noch nicht geschlossen hatte. In dem Jahr war die Zahl der Flüchtlinge aus Syrien, die vom UNHCR registriert wurden, auf mehr als vier Millionen gestiegen. 2,5 Millionen von ihnen befanden sich Ende 2015 bereits in der Türkei. Insgesamt sind nun mehr als fünf Millionen Syrer aus ihrer Heimat geflohen, in der Türkei ist ihre Zahl zwischenzeitlich auf bis zu 3,7 Millionen angewachsen.

Vor dem Deal zwischen der EU und der Türkei kamen monatlich häufig zehntausende Flüchtlinge vor allem in Italien an, 2015 erreichten immer mehr Menschen vor allem Griechenland - im Oktober 2015 stieg ihre Zahl dem UNHCR zufolge dort auf einen Spitzenwert von mehr als 211 000 Menschen. Nach der Vereinbarung zwischen der EU und Ankara versuchten zwar weiterhin, Flüchtlinge das Mittelmeer zu überwinden, allerdings sind die Zahlen derjenigen, die Griechenland, Italien oder Spanien erreichten, deutlich gesunken.

Betrachtet man die Zahl der Asylsuchenden in verschiedenen europäischen Ländern, so hat Deutschland deutlich mehr von ihnen aufgenommen als alle anderen EU-Mitglieder. Allerdings muss man dabei Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft der Staaten berücksichtigen. So haben einige kleinere Länder zeitweilig pro Kopf mehr Flüchtlinge aufgenommen als Deutschland.

Vor allem wenn man die Zahl der syrischen Flüchtlinge insgesamt ins Verhältnis setzt zu den Menschen, die in der EU oder in Deutschland um Asyl bitten, so schaffen relativ wenige den Weg hierher. Und es erhalten natürlich bei weitem nicht alle Flüchtlinge Asyl. Trotzdem ist die Bereitschaft, erneut eine große Zahl von Flüchtlingen Zuflucht zu bieten, heute in Deutschland und den übrigen EU-Staaten geringer als vor fünf Jahren.

Großer Druck auf die Flüchtlinge in der Türkei

Der Deal zwischen EU und der Türkei hat zwar die Zahl der Flüchtlinge, die sich von dort aus auf den Weg Richtung Westen gemacht haben, deutlich gesenkt. Aber deren Not ist nicht weniger geworden. Im Gegenteil. Viele können oder wollen nicht in die Heimat zurück, in der Türkei bekommen sie und andere Flüchtlinge weder ausreichende Hilfe noch gibt es für sie eine Perspektive für die Zukunft.

Amnesty International zufolge haben zum Beispiel lediglich 1,5 Prozent der arbeitsfähigen Syrer in der Türkei eine Arbeitserlaubnis, die übrigen sind arbeitslos, vermutlich arbeiten viele schwarz und unter schlechten Bedingungen. Und es gibt wenig Aussicht auf eine Verbesserung.

Die Türkei hat mit einer Öffnung ihrer Grenze nach Griechenland demnach durchaus ein Mittel, um die EU unter Druck zu setzen. Die Motivation vieler Flüchtlinge in der Türkei, noch nach Europa zu gelangen, dürfte hoch sein.

Bereits jetzt versucht die griechische Regierung jedoch, Flüchtlinge mit Gewalt am Grenzübertritt zu hindern. Ob diese Maßnahmen tatsächlich abschrecken, ist offen. Wie viele der mehrere Millionen Syrer, Afghanen, Iraker, Iraner und anderer Flüchtlinge in der Türkei sich nun noch auf den Weg machen werden, hängt also vermutlich davon ab, wie jene, die die EU-Außengrenzen bereits erreicht haben, behandelt werden - und ob jene, die sich noch nicht entschieden haben, davon erfahren. Das aber ist offenbar nicht im Interesse der türkischen Regierung. Die hat schließlich selbst bei den Flüchtlingen den Eindruck erweckt, der Weg in die EU sei frei.

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