Flüchtlinge:Die Kanzlerin hat viel riskiert - und verloren

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Angela Merkel hat in der Flüchtlingsfrage ihre eigene politische Macht überschätzt. (Foto: AP)

Angela Merkel erlebt wie nie zuvor die Grenzen ihrer Macht. Sie wird die Politik der offenen Grenze beenden müssen - so bitter das für die Ankommenden ist.

Kommentar von Joachim Käppner

Von der Macht eines Kurfürsten kann eine Kanzlerin höchstens träumen. Friedrich Wilhelm von Brandenburg-Preußen ließ 1685 per Federstrich die in Frankreich brutal verfolgten Hugenotten aufnehmen. Er werde "aus gerechten Mitleiden bewogen/vermittels dieses von Uns eigenhändig unterschriebenen Edicts denenselben eine sichere und freye retraite in alle Unsere Lande und Provincien in Gnaden zu offeriren." Heute heißt das: Wir schaffen das.

Friedrich Wilhelm konnte sich anschließend wieder in Ruhe den Freuden der Jagd widmen. Angela Merkel dagegen bekommt in der Flüchtlingsfrage die Grenzen ihrer Macht aufgezeigt wie noch nie zuvor in ihrer Amtszeit. Es sind die alten, schon überwunden geglaubten Grenzen der Nationalstaaten. Innenpolitisch gärt es, außenpolitisch droht die Isolation. Soeben hat Frankreichs Premierminister Manuel Valls noch einmal sehr deutlich gemacht, sein Land werde nicht mehr als 30 000 Flüchtlinge aufnehmen; östlich des Rheins sind es mehr als eine Million.

Der wichtigste Partner Deutschlands in der EU bleibt bei seinem "Nein". Ehemalige Verbündete in der Sache haben sich verabschiedet: Schweden, das seine Tore anfangs weit geöffnet hatte, oder Österreich. Das bedeutet wohl, dass die Bundesrepublik trotz aller Asylpakete und Marine-Einsätze gegen Schleuser zum Sehnsuchtsziel für noch mehr Flüchtlinge werden wird: die letzte offene Tür in die Welt des Westens.

Sie ist gescheitert an Egoismus und Nöten der Mitgliedstaaten

Historisch betrachtet, ist diese Situation der Einsamkeit nicht einmalig: Preußen war die rettende Insel für die Hugenotten, das islamische Reich der Osmanen Zuflucht für die von der Inquisition verfolgten Juden Spaniens, Amerika Ziel für die geschlagenen deutschen Freiheitskämpfer von 1848. Alle diese Staaten haben von der eigenen Großherzigkeit am Ende profitiert. Das Problem ist nur, dass es Angela Merkel heute nur wenig hilft, sollten die Geschichtsbücher sie dereinst als leuchtendes Beispiel in dunkler Zeit hervorheben.

Ihr an sich vernünftiges Modell, die Flüchtlinge aus den von Hass, Mord und Gewalt verwüsteten Staaten des Nahen Ostens, vor allem aus Syrien, einigermaßen gerecht über die große Gemeinschaft der EU-Staaten zu verteilen - es ist offenkundig gescheitert. Es ist gescheitert, weil Merkel die Dimension des Problems verkannt, aus Prinzipientreue wie aus Überschätzung ihrer politischen Stärke und Überzeugungskraft eine Niederlage riskiert und erlitten hat.

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Sie ist gescheitert an Egoismus und Nöten der Mitgliedstaaten, gescheitert am Wiederaufflammen des Nationalismus, der gefährlicher werden kann als die Euro-Krise - diesmal geht es nicht ums Geld, sondern um die Identität des Kontinents. Die Wirkung der alten, im Kern so wahren Zauberformel von der Einigung als Bollwerk gegen Krisen und Kriege lässt nach.

Die Kanzlerin als kalte Königin Europas und Deutschland als Vormacht der EU

Vor einem halben Jahr noch galt die Kanzlerin als kalte Königin Europas und Deutschland als Vormacht der EU. Bei der Euro-Rettung und der Sanierung Griechenlands drückte die Bundesregierung ihren Willen durch - oft zu Recht in der Sache, nicht ganz so oft sensibel im Ton gegenüber Ländern, durch die vor 75 Jahren deutsche Schaftstiefel getrampelt waren. So ungerecht es sein mag, in vielen Mitgliedstaaten erschien die Parole "Wir schaffen das!" als neue Variante Berliner Hegemonialpolitik. Die vielen Deutschen, die aus guten Gründen so stolz waren auf ihre "Willkommenskultur", verstanden diese Befindlichkeiten wenig.

In Ländern wie den osteuropäischen Visegrad-Staaten fehlt es nicht nur am Willen, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, sondern auch an politischem Spielraum. Dort sind die rechten, bis ins Xenophobe reichenden Kräfte viel stärker als in der Bundesrepublik. Frankreich wird durch den Front National elementar herausgefordert. Zudem ist das Land vom islamistischen Terror erschüttert, in Krisenstaaten militärisch engagiert und hat von dort etliche Menschen aufgenommen. Keine Regierung wird es riskieren, in dieser Lage Hunderttausende Asylbewerber ins Land zu holen.

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Von Thorsten Denkler

Allein wird die Bundesrepublik die Politik der offenen Grenze nicht fortsetzen können, nicht gegen Partner, welche die Flüchtlingskrise am liebsten als Problem der Deutschen sehen. Das ist beklagenswert, aber klagen hilft nicht. Der anstehende EU-Gipfel mag eine kleine "Koalition der Willigen" schmieden, die begrenzte Kontingente aus den Flüchtlingslagern in der Türkei aufnehmen. Das wäre schon viel und für Merkel immerhin gesichtswahrend. Doch die Niederlage bleibt. Selbst für jene Europäer, die eben noch die deutsche Übermacht beklagten, ist das keine gute Nachricht. Denn sonst ist niemand zu sehen, der die auseinanderdriftende EU zusammenhalten könnte.

© SZ vom 16.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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