Flüchtlinge:Die EU wäre dumm, den Deal mit Erdoğan aufzukündigen

Bundeskanzlerin Merkel besucht Türkei

Die EU sollte am Deal mit der Türkei festhalten.

(Foto: dpa)

Wenn die Flüchtlinge wieder kämen, würde Europa erneut über ihre Verteilung streiten - vermutlich härter als zuvor. Brüssel sollte an dem Abkommen festhalten.

Kommentar von Thomas Kirchner, Brüssel

Was wäre wenn? Einmal jährlich spekuliert das britische Magazin Economist über Alternativen zum Status quo. Wie sähe die Welt aus, wenn Donald Trump US-Präsident würde, lautete eine Frage in der jüngsten Beilage. Oder: Was, wenn Hacker das Weltfinanzsystem lahmlegten? Aus aktuellem Anlass hätte es sich gelohnt, eine weitere Vermutung anzustellen: Was, wenn Europa und die Türkei im März nicht das Abkommen zur Lösung der Flüchtlingskrise geschlossen hätten?

Eine ehrliche Antwort erfordert wenig Fantasie. Griechenland wäre unter der Last der anstürmenden Migranten wohl zusammengebrochen, Europa hätte neben einer humanitären auch eine politische Katastrophe verantworten müssen. Der EU wäre völliges Versagen vorgeworfen worden, sie stünde noch desaströser da als jetzt. Im Übrigen hätte Kanzlerin Angela Merkel das Scheitern ihrer großen Hoffnung politisch nicht überlebt.

Der Pakt der EU mit der Türkei nützt auch jetzt beiden Seiten

Der Deal mit der Türkei war die richtige Reaktion auf das Scheitern der Flüchtlingspolitik der EU. Jahrelang hatten Migranten ungehindert nach Griechenland und Italien einreisen können, von wo aus sie Richtung Norden geschickt wurden. Alle Versuche, Hauptzielländer wie Deutschland und Schweden zu entlasten und die Flüchtlinge freiwillig oder per verpflichtender Quote auf andere Staaten umzuverteilen, prallten gegen eine Wand der Ablehnung. Am Ende schrumpfte die Reaktion der EU auf zwei Worte zusammen: Grenzen dicht! Mehr fiel den Balkanstaaten nicht ein, um den Zuzug zu stoppen.

Merkel wollte eine Alternative entwickeln zu dieser Barrierepolitik, eine Alternative, die europäische Werte nicht vollends verriet. Die Flüchtlinge sollten davon abgehalten werden, sich von Schleppern nach Lesbos oder Chios bringen zu lassen, auf der Überfahrt zu sterben oder ohne Hoffnung in Griechenland zu stranden. Stattdessen sollten die Bedürftigsten, die Syrer, direkt aus der Türkei ausgeflogen werden. Dort sollte zudem der Aufenthalt der Flüchtlinge durch Milliardenhilfe aus der EU erträglicher gemacht werden. An einer Zusammenarbeit mit dem Land führt aus geografischen Gründen nun einmal kein Weg vorbei.

Daran muss erinnert werden, wenn es nun heißt, es sei "von Anfang an falsch" gewesen, sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan "über das Abkommen auszuliefern". Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt, die das behauptet, ignoriert die Umstände, unter denen das Abkommen geschlossen wurde. Sie unterstellt, es ließe sich problemlos eine bessere Lösung finden, eine "eigene EU-Flüchtlingspolitik", wie sie das nennt.

Das aber ist, wie das vergangene Jahr gezeigt hat, Wunschdenken. Der tschechische Präsident Miloš Zeman hat seine Regierung aufgefordert, keinen einzigen Migranten aufzunehmen, um, wie er sagt, sein Land vor Terroranschlägen wie in Frankreich oder Deutschland zu schützen. Weder wohlmeinende Appelle noch Drohungen werden daran etwas ändern.

Das Abkommen mit der Türkei wirkt immerhin, die Zahl der Flüchtlinge, die sich über die Ägäis schleppen lassen, ist um 90 Prozent gesunken. Sicher, auch die geschlossenen Balkangrenzen schrecken ab, aber das allein hätte die Bewegung Richtung Griechenland nicht reduziert. Kein Wunder, dass Griechenland nun, da sich das Verhältnis zur Türkei eintrübt, einen Plan B fordert für den Fall, dass der Deal platzt.

Dass dies geschieht, ist wenig wahrscheinlich. Das mag seltsam klingen nach all den Drohungen aus Ankara, aber im Grunde hat sich durch die Ereignisse der vergangenen Wochen, was das Flüchtlingsabkommen betrifft, nichts Wesentliches geändert. Der Deal bleibt im Interesse der EU wie der Türkei, auch wenn die Regierung in Ankara so tut, als würde sie Europa nur einen Gefallen erweisen. Die Vereinbarung hängt, wie die EU-Kommission zu Recht betont, vom "politischen Willen" beider Seiten ab. Da gäbe es viel zu tun: Die Türkei kennt die Bedingungen der EU für die Visafreiheit und muss sie erfüllen. Die EU wiederum sollte an ihr Versprechen erinnert werden, ein humanitäres Aufnahmeprogramm für Syrer aus der Türkei aufzusetzen.

Und wenn der Deal trotzdem platzt? Die EU ist jetzt technisch besser gewappnet. Im Juni hat sie einen gemeinsamen Grenz- und Küstenschutz beschlossen; sie wird bald genauer wissen, wer sich wie lange auf ihrem Gebiet aufhält. Politisch hingegen ist Europa keinen Schritt weiter. Wenn die Flüchtlinge wieder kämen, würde der Streit über ihre Verteilung erneut ausbrechen, härter als zuvor.

Die EU ist gut beraten, an Plan A festzuhalten. Ihn über den Haufen zu werfen, um Herrn Erdoğan einmal richtig die Meinung zu sagen, wäre dumm.

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