Flüchtlinge:Die Begrenzten

Furcht und Abwehr bestimmen die Politik vieler Staaten gegenüber den Schutzsuchenden. Doch so schafft man keine gesunde Identität. Es bedarf ganz anderer Strategien, um diese Jahrhundertaufgabe zu lösen.

Von Andreas Zielcke

Defensiv, unversöhnlich, kopflos. Dieses fatale Trio von Reflexen beherrscht zurzeit das Flüchtlingsthema. Die Bundesregierung ist nahe dran, sich über einer Nebenfrage des Problems selbst zu zerlegen, Italien lässt gegenüber Flüchtlingsbooten seiner Renitenz freien Lauf, Trump übertrifft sich mit seiner xenophoben Willkür täglich selbst. Mit Ausnahme von Spanien, das eine neue Besonnenheit zeigt, macht es kein westliches Land sehr viel besser.

Mag sein, dass eine von Furcht und Abwehr geleitete Strategie viele Flüchtlinge abhält. Doch die negativen Folgen müssen jeden beunruhigen. Keine Krise beschädigt im Moment das demokratische System so stark wie die Flüchtlingskrise. Um mit der gefährlichsten Nebenwirkung zu beginnen: Da zerfallende Staaten zu den Hauptfluchtursachen gehören, scheint es wie ein böses Omen, dass die heftige Flüchtlingsabwehr in unseren funktionierenden Staaten ihrerseits alarmierende politische Zerfallsprozesse auslöst.

Natürlich hat das nicht dieselbe Dimension wie in den "failed states". Aber das Auseinanderdriften der politischen Lager und ihre militante Feindseligkeit, die jeden Gemeinsinn zur Illusion verkommen lassen, sind ebenfalls Symptome politischer Erosion. Zerfall von staatlichen Institutionen als Fluchtursache und Zerfall von politischer Kommunikation am Fluchtziel - eine zu wenig beachtete Koinzidenz.

Eine zweite nachhaltige Folge betrifft die Grenze. Grenzschutz steht ja, wie auch der jüngste Konflikt in Berlin demonstriert, im Zentrum aller Abwehrstrategien. Doch mehr und mehr bedeutet Grenze nicht nur die geografische Außengrenze eines Landes. Vielmehr verlagert sie sich auch nach innen, nämlich überall hin, wo Flüchtlinge in Lagern oder Ankerzentren zusammengefasst und vom Rest des Landes separiert, das heißt exterritorialisiert werden. So wird die Grenze zu einer mobilen Ausgrenzungstechnik. Die Botschaft ist klar: Ihr seid, auch wenn ihr hier drinnen seid, in Wahrheit draußen. Ausgegrenzt ist damit auch jegliche Integration.

Jeder, dem es so sehr auf die Wahrung der nationalen Identität ankommt, sollte sich eingestehen, wie massiv allein diese beiden Nebenwirkungen der Abwehr- und Abschreckungspolitik auch die politische und kulturelle Identität des Landes verändern: Eine Nation, die sich kaum noch mit sich selbst verständigen kann und eine Hälfte der Bürger von der anderen entfremdet; eine Politik, die Konformität fordert und Zwist erntet; eine nationale Mentalität, die ihren Stolz nur noch mit Trotz und Verdrängung erhält - ist es wirklich das, wovon der Identitätssuchende träumt? Er sucht eine souveräne Identität und findet eine zwangsneurotische.

Furcht und Abwehr bestimmen die Politik vieler Staaten gegenüber Schutzsuchenden

Inzwischen hat man gelernt, dass die Beschimpfung eines solchen Denkens nicht hilft, sondern nur eine stetige Versachlichung, ohne die Interessenskonflikte zu leugnen. Das bedeutet vor allem, irrealen Alternativen zu entkommen.

Besonders ein radikales Entweder-Oder wühlt die Gemüter unnötig auf: Entweder Schutz der nationalen Identität durch Abschottung oder aber Aufgabe der Identität durch Öffnung der Grenzen. Beide Extreme sind nur zu hohen politischen und humanitären Kosten durchzusetzen. Wie also käme man einer maximal humanen Lösung auf realistische und die Ängste vieler Menschen berücksichtigende Weise näher? Das klingt nach einer kaum vollständig lösbaren Aufgabe, und in der Tat läuft es wie bei jeder Jahrhundertfrage auf nichts Geringeres hinaus.

Realismus verlangt zuallererst, die Fakten und die Zeitdimension anzuerkennen. Die Zeitnot, in der sich die überstürzte Abwehrpolitik wähnt, ist eingebildet. Wenn überhaupt, bringt Terrorismus Notstandssituationen hervor, nicht aber der Flüchtlingsandrang, jedenfalls nicht im Augenblick. Der dramatische Zenit der Jahre 2015/2016 ist eindeutig vorbei.

In Not sind viele Flüchtende, kaum aber heute die wohlhabenden Aufnahmestaaten. Das heißt nicht, ihre Probleme kleinzureden. Im Gegenteil, das wäre der Fehler, der die angsterfüllten Abwehrreflexe nur bestärkt. Aber schon die tatsächlichen Flüchtlingszahlen sind nicht ganz so besorgniserregend, wie so viele befürchten, obwohl nach den neuesten Angaben des UN-Flüchtlingswerks Ende 2017 mehr als 71 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht waren.

Doch davon flüchteten mehr als 39 Millionen innerhalb ihres Landes, knapp fünf Millionen flohen zurück in ihr Heimatland. "Nur" rund drei Millionen suchten weltweit Asyl, und knapp 20 Millionen waren transnationale Flüchtende, von denen Nachbarländer die meisten aufnahmen. Weit dahinter rangieren die Industrieländer. Von denen, die nach Europa kamen, trug Deutschland den größten Anteil, etwa 190 000.

Zwei Folgerungen sind zwingend: Zum einen muss die EU zu der Solidarität zurückfinden, die ihr Fundament ausmacht. Das geht nicht, ohne das Dublin-System zu korrigieren und die benachteiligten Randländer wie Italien und Griechenland zu entlasten. Dass Deutschland trotz des Dublin-Privilegs so viele Flüchtende aufnimmt, beweist seine enorme ökonomische und politische Attraktivität, rechtfertig das unfaire Dublin-Regime aber nicht.

Zum anderen: Das Ziel, die "Fluchtursachen zu bekämpfen", ist so konsequent wie utopisch. Niemand kann die Hauptursachen Krieg, Hunger- und Klimakatastrophen in absehbarer Zeit aus der Welt schaffen. Also sind die Flüchtlingsprobleme auf Dauer auch hier zu lösen. Das erfordert nicht zuletzt eine aufrichtige Integrationskultur. Die gibt es noch nicht.

Und vollends ehrlich wäre die Debatte erst, wenn sie auch die "schmutzigen Deals" einbezöge, die mit Ländern wie der Türkei oder Libyen geschlossen sind; die Türkei nimmt derzeit fast 3,8 Millionen Flüchtende auf. Noch baut der Flüchtlingsdiskurs auf vielen Lebenslügen. Human sein heißt nicht, sich an Wahrheiten vorbeizumogeln.

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