Flüchtlinge aus der arabischen Welt:Kleine Welle statt "menschlichem Tsunami"

Die Revolution schickte ihre Kinder: Als der arabische Frühling begann, stiegen Tausende in Boote Richtung Europa. Deutschland verstärkte daraufhin die Grenzkontrollen, Italiens damaliger Premier Berlusconi sprach von einem "menschlichen Tsunami". Doch anders als befürchtet ist die Zahl der Flüchtlinge aus Nordafrika kaum gestiegen.

Roland Preuß

Die Freude war nicht ungetrübt. Es war vor einem Jahr, als die Revolution durch Tunesien fegte, als sie erste Hoffnungen weckte auf ein Ende der arabischen Potentaten, auf Freiheit und eine neue Perspektive für alle Bürger. Doch die sahen viele Tunesier nicht mehr im eigenen Land, zu Tausenden stiegen sie in Boote Richtung Europa, unter ihnen viele Gebildete, die Diplome im Rucksack. Bald sollten ihnen Tausende aus Libyen folgen. Die Revolution schickte ihre Kinder. Doch in Europa will man sie nicht, dort mischte sich Furcht unter die Hoffnung. Italiens damaliger Premier Silvio Berlusconi sprach von einem "menschlichen Tsunami", Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) ließ die Kontrollen an Deutschlands Grenzen verstärken.

EU-Innenminister reden über Flüchtlingswelle

Ein Boot mit Flüchtlingen vor der italienischen Insel Lampedusa: Der damalige Premier Silvio Berlusconi sprach 2011 angesichts des Flüchtlingsstroms aus Nordafrika von einem "menschlichen Tsunami".

(Foto: dpa)

Nun, ein Jahr später, zeigt sich: Die Befürchtungen waren übertrieben, der angebliche Tsunami ist zur kleinen Welle geraten. Nach den jüngsten Asylzahlen kamen aus den drei nordafrikanischen Revolutionsländern Tunesien, Ägypten und Libyen bis Ende November 2011 nicht einmal 800 Menschen nach Deutschland. Richtig auffällig ist nur Syrien, wo sich Staatschef Baschar al-Assad hartnäckig und brutal an der Macht zu halten versucht. Aus diesem Land erreichten vergangenes Jahr etwa 2500 Asylbewerber Deutschland und damit gut 1000 mehr als im Jahr zuvor. Bei mehr als 40.000 Asylsuchenden im Jahr ist auch das nicht richtig viel.

Das gilt im Übrigen für die ganze Europäische Union, wo man trotz arabischem Frühling bis zum Sommer nur etwas mehr Flüchtlinge verzeichnet hat. Am ehesten betraf dies noch Italien, das in dieser Zeit gut 5000 Asylbewerber mehr aufnahm als im Vorjahr, unter ihnen Tausende Bootsflüchtlinge aus Tunesien.

Der Potentat ist weg, die Armut aber geblieben

Dabei hätten viele Nordafrikaner nach wie vor einen Grund, die Überfahrt zu wagen. Zum einen hat die Revolution nicht den plötzlichen Wohlstand gebracht, vielerorts gab es im Gegenteil sogar Einbußen für Hotels und Restaurants und damit für den zentralen Wirtschaftszweig Tourismus. Der Potentat ist weg, die Armut aber geblieben. Zum anderen hat sich Freiheit nicht überall so durchgesetzt wie erhofft. Nach Einschätzung von Amnesty International hat sich die Lage der Menschenrechte im 81-Millionen-Land Ägypten sogar verschlechtert.

"Das herrschende Militär ist mit großer Gewalt gegen Protestierende vorgegangen und hat den Ausnahmezustand ausgeweitet", sagte die Nahost-Expertin vom Amnesty, Ruth Jüttner. Gerade Frauen würden härter angefasst als zuvor. Seit dem Umsturz sind laut Amnesty 12.000 Zivilisten vor Militärgerichten verurteilt worden, wer gegen die Militärregierung demonstriere, werde verhört, sagt Jüttner. Auch in Libyen sei die Lage noch unsicher, Anhänger des früheren Diktators Gaddafi würden verfolgt.

Dennoch bleiben die Menschen in ihren Ländern, sei es, weil sie weiter Hoffnung auf den Wandel setzen, sei es, weil die Überfahrt nach Europa mörderisch gefährlich ist: Laut dem UN-Flüchtlingshilfswerk dürften vergangenes Jahr im Mittelmeer mehr als 1500 Flüchtlinge ertrunken sein. Auf lange Sicht könnten aus Nordafrika sogar weniger Menschen kommen als zuvor. Wenn die Menschenrechte viel stärker beachtet werden, wie laut Amnesty seit dem Machtwechsel in Tunesien, fällt ein wichtiger Grund für politisches Asyl weg. In Deutschland hat sich dies bereits bemerkbar gemacht. Von den 500 Asylbewerbern aus Tunesiern wurde vergangenes Jahr kein einziger mehr anerkannt.

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