Flüchtlinge:Aufgewühlte Republik

Von Grenzen der Belastbarkeit sprechen Politiker, manche sogar vom Notstand. Doch wie geht es den Deutschen mit den Flüchtlingen tatsächlich? Das weiß am ehesten, wessen Job die Meinungen der Deutschen sind.

Von Jan Heidtmann und Josef Kelnberger

Sie reden drauf los, ob Jung oder Alt, ob Arm oder Reich, ob mehr oder weniger gebildet, in allen Dialekten Deutschlands schütten sie ihr Herz aus. Selbst wenn sie Fragen vorgelegt bekommen, auf die sie nur mit Ja oder Nein antworten sollen, gibt es kein Halten. Und durch die Telefonleitungen schwappt nicht nur der fremdenfeindliche Shitstorm, wie man ihn teilweise aus den Social Media kennt, sondern im gleichen Umfang auch das Gegenteil: Wir sind ein reiches Land, wir können uns das leisten, wir brauchen Zuwanderung. So geht das zu bei den deutschen Meinungs- und Wahlforschern in der Flüchtlingskrise. Die Deutschen haben Gesprächsbedarf.

In Hintergrundgesprächen wird ein düsteres Bild der Zukunft Deutschlands gezeichnet

"Die Flüchtlingskrise ist das Thema, das die Republik bewegt und aufwühlt", sagt Nico Siegel, Geschäftsführer des Berliner Instituts Infratest Dimap, der seine Befrager selbst befragen ließ, um einen Eindruck von der Stimmung zu erhalten. Man spricht wieder über Politik, das ist schon mal eine erfreuliche Erkenntnis. Doch Politiker fragen bang, was genau die aufgewühlte Republik ihnen sagen will.

In Hintergrundgesprächen mit Regierenden ist die Angst manchmal mit Händen zu greifen. Sie zeichnen dann ein düsteres Bild der nahen Zukunft, das Wort vom Notstand fällt immer wieder. Kämen weiterhin so viele Menschen nach Deutschland wie zurzeit, so der Tenor, dann sei Ende des Jahres, allerspätestens Ende Januar, die oft beschworene Grenze in der Tat erreicht. Und was, wenn Kanzlerin Merkel über die Flüchtlingskrise stürzt und das gesamte politische System erschüttert wird?

"Die Flüchtlingskrise wäre per se keine Ursache für sinkendes Vertrauen in die Politik, sie hat aber das Potenzial, einen enormen Verstärkungseffekt auszulösen und vor allem auch Parteibindungen aufzulösen", sagt Meinungsforscher Siegel. Die Zustimmungswerte für das demokratische System seien noch hoch, aber es gebe auch Unbehagen: über die ritualisierten Parteienkonflikte, über die wachsende soziale Ungleichheit, den Abschied vom Nationalstaat klassischer Prägung und zugleich die mühevolle europäische Integration. Die hoch emotionale Flüchtlingskrise, die Weltanschauungen und Grundwerte berühre, verstärke jetzt den Druck auf die Politik. "Wie in einem Kessel", sagt Siegel.

Befeuert wird der Eindruck durch den Zuwachs, den die AfD erlebt. Bei zehn Prozent wurde die Partei vor allem von Medien der Springerpresse schon gesehen. Doch geht diese Erkenntnis auf ein Institut namens INSA zurück. Deren Chef Hermann Binkert stand der AfD zeitweise nahe. Realistisch sind acht Prozent für die AfD (siehe Politbarometer unten). Das Kalkül Horst Seehofers, den rechten Rand mit harscher Rhetorik zu bedienen, gehe nicht auf. "Da stimmen die Leute lieber für das Original", sagt Manfred Güllner, Chef der Meinungsforschungsinstituts Forsa. Flüchtlingspolitik sei "für die Leute kein ideologisches, sondern ein sachliches Problem, sie erwarten, dass die Politik damit besonnen umgeht."

Flüchtlinge: SZ-Grafik; Quelle: Forschungsgruppe Wahlen

SZ-Grafik; Quelle: Forschungsgruppe Wahlen

Zwar würden 80 Prozent der Befragten angeben, dass sie derzeit die Flüchtlingspolitik als das größte Problem ansähen. Güllner hat aber in vier Städten nachfragen lassen, inwieweit die Geflüchteten den Alltag der Menschen beeinflussen. Vierzig Prozent sagten, sie hätten noch keinen Flüchtling bei sich wahrgenommen, und nur sechs Prozent gaben an, dass sie mit der Anwesenheit von Flüchtlingen konkret Schwierigkeiten hätten. Tatsächlich sei es so, dass das Hickhack in der Regierung aus den Flüchtlingen erst ein Problem mache. "Was sollen die Leute da auch sagen", meint Güllner. "Das wird denen doch eingetrichtert." Ein Effekt, der auch durch Zahlen zu belegen sei: Kaum haben sich Seehofer und Merkel geeinigt, habe die Union schon wieder zugelegt. Nach de Maizières Alleingängen und der "Lawine" von Finanzminister Wolfgang Schäuble werde die Union nun wieder verlieren.

Nico Siegel von infratest dimap glaubt, die nächsten sechs Wochen seien entscheiden dafür, ob die CDU dauerhaft in den Abwärtstrend gerate. Spätestens beim Bundesparteitag der CDU Mitte Dezember müsse die Parteichefin ihren Laden zusammenbringen. "Viele Unions-Anhänger erwarten von Frau Merkel, dass sie wieder ein Zeichen setzt. Sie hat ja zunächst den emotionalen Nerv getroffen mit ihrem: Wir schaffen das. Die Frage ist, ob sie bereit ist, den anderen Nerv in ihrer Partei zu treffen. Aber so, dass man ihr weder zu viel Opportunismus noch das Schüren von Ressentiments vorwerfen kann."

Matthias Jung, Leiter der Forschungsgruppe Wahlen in Mannheim und Verfasser des Politikbarometers, hält die Lage für weniger dramatisch. "Frau Merkel hatte vorher ein präsidentielles Image. Nun ist sie die meistgehasste Politikerin bei den AfD-Anhängern, hat aber immer noch eine sehr hohe Zustimmung in der Unions-Anhängerschaft." Und selbst über die Parteigrenzen hinweg schneidet sie in seinen Umfragen nicht so schlecht ab. 43 Prozent der Befragten halten ihre Flüchtlingspolitik für eher gut, 52 Prozent für eher schlecht. Aber ihre Amtsführung insgesamt halten immer noch über zwei Drittel der Deutschen für eher gut. Die Unruhe bei CDU-Abgeordneten über die angeblich miserable Stimmung in der Partei hält er für völlig überzogen. Die Panikschübe dort seien typisch für Parteien, die sich gerade modernisieren, glaubt Jung. "Der Abgeordnete, der angeblich an der Basis Volkes Stimme erforscht, wird immer ein falsches Bild einholen. Er bewegt sich in ganz engen Milieus, weit entfernt von der Bevölkerung, die wesentlich aufgeschlossener gegenüber Flüchtlingen ist."

Dennoch hält es Jung für möglich, dass sich eine rechte Partei dauerhaft etabliert. Die Mitte der Gesellschaft sei verunsichert. Mehr als die Angst vor Überfremdung gehe die Sorge um, dass der Staat wegen der Flüchtlinge an anderer Stelle spart. In Einzelfragen plädiert die Mehrheit mal für Restriktion (Einzelfallprüfung für Syrer), mal für Liberalität (Familiennachzug). Dass die Deutschen noch gelassen bleiben, hat auch mit der boomenden Wirtschaft zu tun und damit, dass es zuletzt kaum Wahlkampf gab. Doch bald stehen Wahlen in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz an.

Wie wäre es, wenn sich Merkel und Seehofer hinstellten und sagten: "Wir schaffen das"?

Frank Stauss beobachtet die Entwicklungen daher besonders genau, der Wahlwerber von der Agentur Butter ist von der SPD in Rheinland-Pfalz engagiert. Er glaubt, dass die Menschen von der Politik erwarten, geschlossen zu agieren. Wie anders wäre es, "wenn Angela Merkel mit Horst Seehofer aufgetreten wäre und beide gesagt hätten: 'Wir schaffen das'". Wie Merkel und Finanzminister Steinbrück in der Euro-Krise. "Stattdessen sind die Leute enorm verunsichert." Dennoch kann Stauss der politischen Debatte einiges abgewinnen. "Nach einer langen Phase des Stillstands diskutierten die Leute wieder unterschiedliche Gesellschaftsentwürfe."

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