Fischer & Co.:Super bin ich trotzdem

Was ein Skandal ist - und was nicht? Wer zurücktritt - und wer nicht? Alles eine Frage von Aura und Dreistigkeit. Hier die Regelkunde in vier Schritten. Von Hans Leyendecker.

Wer uns in diesen seltsamen Berliner Tagen am meisten fehlt, ist der Wanderbischof Emmeram, genannt auch Heimrammi. Was hat der heilige Emmeram vor gut dreizehnhundert Jahren nicht alles geleistet!

Einen Greis, der für außereheliche Lust anfällig schien, hat er an der Sünde gehindert. Märtyrer war er auch. Und als nach Heimrammis Tod einer aus dem Gesinde Otto des Großen (des echten ) im Reichskloster Sankt Emmeram zu Regensburg Skandalöses über den Heiligen verbreitete, trat derselbe aus der Mauer und versetzte dem Kerl einen Tritt, so dass der zu Boden stürzte.

Damals jedenfalls zeitigten Skandale noch Folgen. Heutzutage bleiben sie zumeist folgenlos. Alle paar Jahre bekommt die Republik aber immerhin dank eines so genannten Skandals die Chance, sich selbst besser kennen zu lernen und zu begreifen, wie das Gemeinwesen funktioniert: meist gemein.

Da trat in dieser Woche zum Beispiel der vom Waffenlobbyisten Karlheinz Schreiber mit reichlich Barem ausstaffierte ehemalige Rüstungsstaatssekretär Ludwig-Holger Pfahls vor dem Augsburger Landgericht als Angeklagter auf - und er hat tatsächlich Chancen, dass er nach Ende des Prozesses milde gestäupt davonkommt.

An seiner Seite hat der mutmaßlich Korrupte einen Anwalt, der, das ist kein Witz, "Vertrauensanwalt für Hinweise auf Korruption in der Landesverwaltung Rheinland-Pfalz" ist. Heiliger Emmeram, steh uns bei!

Und was hätte der Wanderbischof erst mit einem Visa-Sünder wie Bundesaußenminister Joschka Fischer gemacht, der wirklich nur den allerdings zahlreichen Heiden des Berliner Politikbetriebs so gebenedeit erscheint wie es der Eiferer Emmeram wirklich war. Selbst das Gebet der Mönche hätte vermutlich den ehemaligen Messdiener Fischer nach dem fälligen Zornesausbruch Emmerams nicht wieder zum Leben erwecken können.

Kein leichter Fall

Schwieriger wäre es, vorauszusagen, wie er mit Bundesinnenminister Otto Schily umgegangen wäre, der nächsten Freitag als vermutlich letzter Zeuge vor dem Visa-Untersuchungsausschuss auftreten wird. Kein leichter Fall. Sogar seine Gegner nennen ihn Otto den Großen, obwohl Verehrung bekanntermaßen nur wenigen zur Einsicht verhilft. Lob macht die Alten nur noch starrer.

Otto Schily wird in der Visa-Affäre vermutlich Rot-Grün verteidigen, denn der Alterspräsident des Bundestages, der er auch ist, glaubt mittlerweile, wie mancher andere aus dem Betrieb auch, ausgesprochen fest vor allem und fast nur noch an seine eigenen Legenden.

Seine Leute haben vor den Reiseerleichterungen doch gewarnt, sie haben doch Brand-Berichte geschrieben, und manche lasen sich ja wirklich so apokalyptisch, wie Schily auch sonst gerne tut. Hätte er doch nur etwas draus gemacht.

Super bin ich trotzdem

Nun, schon lange gibt es den reichlich doppelten Otto. Früher verteidigte der Anwalt Otto Schily Terroristen gegen den Staat. Heute verteidigt der Minister Schily die Republik gegen Terroristen, und zwar auf eine Art und Weise, als sei er, Otto, selbst der Vater Staat.

Aber über seine biographischen Brüche wird er sicherlich auch vor diesem Ausschuss nicht reden, und nein, es würde auch nicht interessieren. Der Sozialdemokrat Schily ist ein gewesener Grüner, und ehemals war er im Flick-Untersuchungsausschuss als Frager an die Herren Kohl und Co. derart brillant, dass man sich nun schon beim Anblick von Hans-Peter Uhl zu schämen beginnt, obwohl man doch nichts dafür kann, wie schlecht der fragt.

Abgebrühter Wirklichkeitssinn

Heute, seien wir ehrlich, könnte einer wie Schily unser aller Stellvertreter sein, wenn es um die Behandlung von Skandalen geht. Wir alle gehen meist lax und lieblos mit ihnen um. In allen von uns schlummert ein abgebrühter Wirklichkeitssinn, der stolz darauf ist, das meiste schnell durchschaut zu haben, und der immer wieder geneigt ist, es dabei nun aber zu belassen. Man hat ja schließlich noch andere Sorgen.

Bei politischen Skandalen geht es um Konflikte über die Verteilung, Ausübung, Kontrolle und Legitimierung politischer Herrschaft - soweit die Theorie. Das Leben ist meist anders.

Skandalkunde, Regel eins: Das Publikum hält sich nicht an Regeln!

Voraussetzung für einen ordentlichen Skandal ist, dass es dem Skandalierer überhaupt gelingt, ein Ereignis als Skandal zu definieren, und damit fängt schon das Problem an. Wer zum Beispiel mit oppositionellen Grünen in Länderparlamenten zu tun hatte, kann feststellen, dass die komischerweise jeden Tag einen Skandal aufdecken - und meist aber die einzigen sind, die da immer einen Skandal erkennen.

"Was dem einen ein Skandal, ist dem anderen vielleicht eine ephemere Bagatelle, dem Dritten eine durchaus korrekte Handlungsweise und dem Vierten womöglich gar schon der beifallheischende Nachweis besonderer Befähigungen", schrieb der in Dortmund lehrende Soziologieprofessor Ronald Hitzler bereits in den achtziger Jahren.

"Und wir haben ein Idoool, Helmut Kooohol" skandierten Mitglieder der Jungen Union im Herbst 2004 auf dem Deutschlandtag der Jungen Union. Dass ein Kanzler gegen das Gesetz, am Staat vorbei, mit Geld hantierte - für seine Anhänger allenfalls Erinnerung an längst vergessene Querelen. Dass er im Gesetzesbruch verharrt und die Namen der Geber nicht nennen will - ein Klacks.

Meist versuchen, wie es jüngst auch im Visa-Fall war, Medien zu definieren, was ein Skandal wird oder was eine Bagatelle bleiben soll. Das hängt nicht selten von den Standpunkten ab. Wer konservativ-bürgerlich war und die Grünen nicht mochte, erkannte im Visa-Fall auch ohne jegliche Aktenkenntnis sofort die ganz große Affäre.

Super bin ich trotzdem

Wer sich eher links fühlt und zum Beispiel die Änderungen beim Staatsangehörigkeitsrecht, das Zuwanderungsgesetz und die eingetragene Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare für die Menschheitsthemen schlechthin hält, war, nun ja, echt genervt. Ob links oder rechts: So ziemlich alle Journalisten publizieren wirklich nicht gerne gegen ihre eigenen Vor-Urteile.

Was Skandal ist und was nicht, kommt auch auf den Zeitpunkt an, und natürlich: auf die Aura. Die römische Kaiserin Messalina kopulierte öffentlich im Wettstreit mit einer bekannten Kurtisane mit 25 Männern! Das hat ihrem Image so wenig geschadet wie dem FC-Bayern-Präsidenten Franz Beckenbauer sein unehelich und noch dazu auf der Club-Weihnachtsfeier gezeugtes Kind.

Die Frage, ob es Aura gibt, lässt sich an einer Messalina und erst Recht an einem Beckenbauer zweifelsfrei mit Ja beantworten. Denn wieso glänzen jene weiter, wenn andererseits ein kreuznormaler Kandidat für ein politisches Amt über ein außereheliches Gschpusi schon stürzt, bevor er überhaupt ins Gerede für dieses Amt kommt?

Aber, sagen Sie nun, es gibt doch auch noch jene unter uns, die sich fern jeder Parteipräferenz wirklich für die besten Antworten auf schwierige sachpolitische Fragen interessieren! Die immerzu Phoenix schauen und auf Tagungen in Evangelischen Akademien mit zerfurchter Stirn Mineralwasser nachgießen.

Ja, Leute wie die gibt's mitunter auch. Aber mal ehrlich: Vergessen Sie die!

Skandalkunde, Regel zwei: Das Publikum ist stur und apathisch!

Ja, sicher, aber oft will es auch nur im eigenen Vor-Urteil bestätigt werden. Im Skandal findet der Betrachter, was er immer schon gewusst zu haben glaubte. Nur bitte keine neuen Sachverhalte und Abweichung vom Kurs durch neue Ergebnisse - das kann nur irritieren!

Wer Fischer schon vorm Visa-Fall gut fand, wollte ihn - Wechselwähler ausgenommen - eigentlich auch weiterhin gut finden. Wer Fischer nicht mochte, sah sich bestätigt. Skandalierer haben eine Gemeinde, die ihnen folgt oder sie haben Gegner, die das meiste, was den Skandalierten vorgeworfen wird, von vornherein für Schwachsinn halten.

Das Publikum reagiere "mit seinen Identifikationen, die politische Bindungen mit sich bringen" schrieb vor Jahren der Soziologe Heinz Bude in einem Aufsatz über "Typen von Skandalpolitikern". Heutzutage ist alles noch einfacher. Wenn der Reiz der Neuheit verschwunden ist, schlägt die Stimmung schnell um: Nicht schon wieder, lieber was Neues. Man hat ja schließlich noch andere Interessen.

Super bin ich trotzdem

Illusionen über Veränderungen durch Skandale macht sich das Publikum nur noch selten. Bevor es sich wieder seinem Alltag zuwendet, erlebt es manchmal das ungläubige Stutzen eines Ertappten über dessen zeitweilige Demaskierung. Dann schaut man in die leeren Augen von Laurenz Meyer, und ein paar Wochen später schon fragen wir: Laurenz wer?

Skandalkunde, Regel drei: Bitte keine zu komplizierte Handlung!

Betrachten wir die Fakten, so war der Visa-Fall wahrlich keine kleine Affäre. Technisch gesehen, in der B-Note, machte Fischer in eigener Sache, als der Sturm also schon losgebrochen war, Anfängerfehler. Dass er zunächst versuchte, die Schuld für die Pannen in der Visa-Affäre auf Subalterne zu schieben, war extrem töricht, alleine: es hat ihm nicht wirklich geschadet.

Zwar ging es nicht um Geld, auch nicht um Sex, aber es ging um ein gigantisches Regierungsversagen.

Der Fall aber war insgesamt zu verwoben und die Materie zu trocken. Wer außer den Betroffenen interessierte sich wirklich für die Feinheiten des "Plurrez-Erlasses", wer konnte diese ganzen blassen Darsteller - meist Diplomaten des gehobenen und höheren Dienstes, die aussahen wie frustrierte Ehebrecher aus einer Chabrol-Komödie - auseinanderhalten?

Selbst Experten drohten angesichts der vielen Akteure den Überblick zu verlieren. Wer war bei der entscheidenden Sitzung dabei? Herr von Kummer, Herr Grabherr oder Herr Manig? Oder doch der Abteilungsleiter, der mit der neumodischen Frisur, wie hieß der noch gleich? Bei Geld-Geschichten - wie im Fall Pfahls - kann zwar das Aufregungspotenzial nachlassen, aber der Skandal findet auch nach Jahren immer noch ein bisschen Aufmerksamkeit. Die Handlung muss, wie im Krimi, überschaubar bleiben. Höchstens ein paar Verdächtige, allenfalls drei Schauplätze.

Es darf nie um die ganze Welt gehen!

Skandalkunde, Regel vier: Beim Skandal bleiben manche gleicher als gleich!

"Führung heißt, Verantwortung zu übernehmen und zwar für alles, was in dem zu führenden Haus passiert", hat die Grünen-Politikerin Andrea Fischer in einem Interview mit der Zeitschrift Cicero erklärt. Die Dame hat zumindest ein Erklärungsbedürfnis. Auf Druck ihres Parteifreundes Joschka hatte sie nämlich das Amt der Gesundheitsministerin aufgeben müssen, weil sie zu früh Entwarnung für eine BSE-gefährdete Wurstmarke gegeben hatte.

Nun fragen wir bitte mal: Was bedeutet denn die Entscheidung über eine Wurst verglichen mit der - zugegeben: unfreiwilligen, aber eben auch: überaus fahrlässigen - Förderung von kriminellen Banden, die am illegalen Visa-Geschäft verdienten? Fehler des Apparates seien Führungsfehler - das hatten die Leute Joschka Fischers der Grünen-Ministerin Andrea Fischer vor deren Abgang bedeutet.

Das sei nun einmal der Preis der Macht. Man könne das als Sündenbock-Forderung denunzieren, aber es gehe eben auch um den politischen Anstand.

Bei Joschka Fischers langem Lauf um sich selbst war das komplizierter: Es seien "schon Minister wegen weniger zurückgetreten", hat er in einem Interview gesagt. "Aber: Es sind wieder andere auch mit größeren Versäumnissen im Amt geblieben". A la bonne heure, oder?

Joschka Fischer blieb, weil er angeblich unverzichtbar für den Bestand einer Koalition war, die eigentlich nur noch auf dem Papier existierte. Dass sich Politiker auch selbst für unverzichtbar halten, ist nicht neu. Dass sich Helmut Kohl für unverzichtbar hielt, wurde ihm nicht zuletzt von Joschka Fischer mit Spott ein ums andere vorgeworfen.

Politiker halten sich immer für unverzichtbar, der fleißige Edmund Stoiber zum Beispiel hält sich in Bayern für unverzichtbar, und sogar der Partyschreck Klaus Wowereit, und das noch in Berlin.

Das ist alles nur gewöhnlich.

Aber ein Skandal?

Wie so vieles in unserer modernen Sprache hat das Wort Skandal seine Wurzeln im alten Europa. Die Griechen nannten das "Stellhölzchen" einer Tierfalle scandalon. Die Fangvorrichtung klappte plötzlich zu, wenn das Hölzchen berührt wurde. Der Unglückliche saß dann in der Falle und wurde vom Publikum bestaunt. Das Opfer wurde zum negativen Vorbild - zum "Unwunschbild" wie der Philosoph Ernst Bloch einmal geschrieben hat.

Fischers Zeugenaussage am 25. April im Untersuchungsausschuss wurde live von 10 Uhr bis 22.30 Uhr übertragen. Heutzutage ist der Skandalierte der Star im Käfig. Dass Fischer da, wie wir wissen, eine relativ gute Figur abgegeben hat, liegt an zweierlei: zum einen waren die anderen so schlecht, dass Fischer sehr gut sein konnte.

Und zum anderen hat der Bundesaußenminister keinen Skandal zu verantworten, so gerne die Herren von der Opposition das auch gehabt hätten. Was Joschka Fischer zu verantworten hat? Wie gesagt: außergewöhnlich schwerwiegendes politisches Versagen.

Wegen sowas aber ist in Deutschland noch niemand zurückgetreten.

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