Fidel Castro ist tot:Der real existierende Mythos

Fidel Castro regierte Kuba fast 50 Jahre. Er überlebte zehn US-Präsidenten und angeblich 637 Attentatsversuche. Nun ist der "Máximo Líder" gestorben.

Nachruf von Peter Burghardt

Irgendwann hielt man Fidel Castro für zeitlos. Er war einfach immer da, ein real existierender Mythos. Andere verloren Wahlen oder wurden gestürzt, starben oder wurden ermordet. Der Comandante blieb. Sein grauer Rauschebart und die olivgrüne Uniform gehörten zu Kuba wie der tote Che Guevera. Wie Salsa, Rum und Zigarren. Wie die halb verfallenen Kolonialbauten, verbeulten Straßenkreuzer und sozialistischen Parolen.

Als Castro 1959 die Insel eroberte, da regierte in Westdeutschland Konrad Adenauer und in Ostdeutschland Walter Ulbricht. Nur die britische Queen war schon gekrönt, aber deren Job ließ sich kaum mit seinem vergleichen. Er überstand eine Söldnerinvasion, die Atomraketenkrise, das US-Embargo, den Zusammenbruch des Mäzens Sowjetunion, den Kalten Krieg. Er überlebte zehn US-Präsidenten und laut eigener Statistik 637 Attentatsversuche.

Feinde vor allem unter Floridas Exilkubanern sehnten seit Dekaden sein Ende herbei. Die CIA meldete Parkinson, Krebs und andere Leiden, nichts davon stimmte. Erst der Notoperation wegen schwerer Darmblutungen im August 2006 folgte der Verfall. Bis vor ein paar Wochen schrieb der Patient noch Kolumnen in den Staatszeitungen, und wenn ihn ein Kollege besuchte, dann sendeten Regierungsmedien gelegentlich Lebenszeichen. Sie zeigten einen abgemagerten Greis, der fränkische Trainingsanzug in den kubanischen Farben hing schlaff am Körper.

Ganz langsam verschwand er von der Bühne

Details über seine Gesundheit blieben Staatsgeheimnis. "Wenn ich wirklich sterbe, dann wird es niemand glauben", witzelte der Patron einmal. Jetzt ist er im Alter von 90 Jahren tatsächlich gestorben.

Ganz langsam verschwand der Máximo Líder von einer Bühne, die er fast fünf Jahrzehnte lang beherrscht hatte. Wie ausgeblendet. Im April 2011 wurde er beim Kongress der Kommunistischen Partei in den Saal geführt - Castro I. schlurfte, die Delegierten klatschten, sein Bruder Raúl übernahm nach dem Posten des Präsidenten und Chef des Ministerrates auch das Amt des KP-Vorsitzenden. Seine Marathonreden von einst ersetzten seine Essays über Obama, Finanzdesaster oder Hungerkrise, sein philosophisches Spätwerk. Seit seinem Rücktritt von den höchsten Posten stand statt "Chefkommandant" bloß "Reflexionen des Genossen Fidel" darüber. Auch seinen Schlachtruf Patria o Muerte, Vaterland oder Tod, hatte er beerdigt.

Das Wort war seine meist verwendete Waffe gewesen, trotz seiner eher dünnen Stimme. Castro klang auch in kräftigen Zeiten oft heiser, ja manchmal zerbrechlich, und sein erhobener Zeigefinger gehörte zu schmalgliedrigen Händen. Kubas Präsident sprach dennoch mehr als wohl sämtliche Politiker vor ihm, in besten Zeiten sieben Stunden ohne Pause.

Schon der junge Castro hatte Instinkt, Charisma - und Glück

Seine Referate waren Geduldsproben. Vor der UN-Vollversammlung in New York warf Castro einmal ein Taschentuch über die rote Lampe, die nach fünf Minuten zum Schweigen auffordert. Ein hundertstündiges Interview mit dem Journalisten Ignacio Ramonet füllt seine Memoiren. "Seine Hingaben an das Wort hat fast magische Züge", schrieb der kolumbianische Schriftsteller Gabriel García Márquez, einer seiner besten Freunde. Er entdeckte "hypnotische Macht".

Seinen ersten Grundsatzvortrag hielt Castro am 16. Oktober 1953 vor Richtern des Diktators Fulgencio Batista, die ihn wegen des Angriffs auf die Moncada-Kaserne in Santiago de Cuba einsperrten. "Verurteilt mich, das hat nichts zu bedeuten", verkündete der junge Rechtsanwalt. "Die Geschichte wird mich frei sprechen."

Es wurde der Kernsatz seiner umstrittenen Karriere. Schon seinerzeit halfen ihm Instinkt, Charisma - und Glück. Der Sturm auf die Kaserne war kläglich gescheitert, um ein Haar wäre der Rädelsführer im Kugelhagel umgekommen. Stattdessen wurde es der Beginn seines Aufstands und Batistas Amtssitz später zum Revolutionsmuseum.

1955 ließ ihn der Tyrann begnadigen. Castro ging ins mexikanische Exil und brach 1956 auf, um gemeinsam mit seinem Bruder Raúl, Che Guevara und 82 anderen die Heimat zu stürmen. Ihre Invasion starteten sie auf einer überladenen Yacht namens Granma, die sie einem amerikanischen Ehepaar abgekauft hatten. Heute heißen Granma die Provinz, an deren Mangroven das Boot landete, sowie das dünne KP-Blatt.

"Revolutionäre gehen nicht in Pension"

Castro, erst 32 Jahre alt, erreichte nach einem Triumphzug aus den Bergen der Sierra Madre mit Gewehr, Zigarre und Sohn Fidelito Havanna. Eine Mehrheit feierte ihn als Befreier aus Korruption und Abhängigkeit, die Stadt war unter Batista zu einem US-amerikanischen Bordell, Casino und Gaunerparadies verkommen. Mit den Jahren geriet die Begeisterung zwar zur oft nervigen Routine, penetrant übertragen und nachgedruckt, während viele Kubaner dösten und auf den Spielfilm oder die Sportnachrichten warteten. Aber Plaudertasche Castro war ein Meister der Improvisation, ein kubanisches Talent. Und er dirigierte auf Kuba alles.

In letzter Instanz bestimmte er, wann Dissidenten im Gefängnis landeten und wie viele Schnellkochtöpfe aus China importiert wurden. Ein Rückzug stand vor dem plötzlichen Siechtum nie zur Debatte. "Ich bin nicht auf die Welt gekommen, um am Ende meines Lebens auszuruhen", ließ er 2003 wissen. "Revolutionäre gehen nicht in Pension", erst am Ende hatte er keine Wahl mehr.

Unter seiner Leitung wurde Kuba einerseits zu einem vor allem für lateinamerikanische Verhältnisse ungewöhnlichen Hort von Bildung, Forschung, Gesundheit und gesellschaftlichen Freiheiten wie Scheidung, Abtreibung, Frauenrechten. Andererseits geriet das Eiland zum Überwachungsstaat, in dem Andersdenkende ignoriert bis verfolgt wurden und die Grenzen vornehmlich Privilegierten offen stehen. Für seine Anhänger war er der Befreier, für seine Gegner der Gefängniswärter.

Ohne den erbitterten Wettstreit der Systeme wäre das Phänomen kaum möglich gewesen. Castro war kein geborener Gegner der USA, er hatte sogar eine Obsession für Nordamerika. Der Sohn eines eingewanderten Großgrundbesitzers aus Galicien bewunderte den früheren US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und liebte Baseball. Mit der Vertreibung der US-Marionette Batista forderte er Washington heraus, 90 Meilen südlich von Key West - auf einmal war das kleine Kuba keine Kolonie mehr nach Art von Puerto Rico.

Der Streit vor den Küsten Floridas spitzte sich zu, als Castro Firmen und Familien aus den USA enteignen ließ. Doch zum Herausforderer erzogen ihn nicht zuletzt die Scharfmacher in Weißem Haus und State Department. Der Abbruch der Beziehungen 1961 und der abstruse Wirtschaftsboykott seit 1962 trugen dazu bei, dass Havanna zur Ruine wurde und der Aufrührer in den Armen des Klassenfeindes landete.

Die Russen blieben den Kubanern fremd, aber der Kreml schickte Öl und Weizen für Zucker. Beim US-gestützten Angriff auf die Schweinebucht 1961 steuerte Castro einen sowjetischen Panzer. Wenige hätten ihm zugetraut, die UdSSR zu überdauern. Nach dem Mauerfall schlitterte Kuba in eine Mangelwirtschaft namens "Spezialperiode in Friedenzeiten". "Wir werden uns allein verteidigen, umgeben von einem Ozean des Kapitalismus", erklärte Castro und entdeckte eine Rettungsinsel.

Privataudienz als Ritterschlag

Viele Lateinamerikaner fanden es bemerkenswert, dass er weiterhin den großen USA trotzte. Den Treibstoff liefert inzwischen sein Schüler Chávez aus Venezuela, und unter Raúl Castro dürfen die Kubaner wieder ein wenig Kapitalisten sein. Immer mehr private Geschäfte sind erlaubt, Fidel Castro musste es geschehen lassen. Außerdem schickte er Ärzte statt wie ehedem Soldaten um den Planeten. Sein Kommuniqué zum 80. Geburtstag schloss mit dem Auftrag: "Wir müssen die Spezies retten."

Gleichgültig ließ er kaum jemanden, eine Privataudienz galt als Ritterschlag. Gerhard Schröder ließ sich zu ihm vermitteln, Oskar Lafontaine. Der Industriemann Hans-Olaf Henkel war ebenfalls beeindruckt und nahm eine Kiste Havannas mit Widmung in Empfang (der ehemalige Kettenraucher Castro hatte dem Tabak abgeschworen). Und 1996 empfing der Jesuitenschüler Castro im dunklen Anzug Papst Johannes Paul II. 2012 im Trainingsanzug Benedikt XVI., obwohl er 1963 exkommuniziert worden war und dem Vernehmen nach der afrokubanischen Religion Santería vertraute. 2015 unterhielt er sich mit Papst Franziskus über theologische Abhandlungen.

Über sein Privatleben wurde wenig bekannt. Unter anderem hatte der ehemalige Schwerenöter eine Romanze mit der deutschen Kapitänstochter Marita Lorenz, die ihn später im Auftrag der CIA umbringen sollte. Er war zweimal verheiratet und zeugte mehrere Kinder, darunter den Atomphysiker Fidelito Castro und Alina Fernández, die in den USA zu seinen Kritikerinnen zählte. Nur seltsame Quellen berichteten von Prunk und Vermögen, sein Lebensstil galt als relativ schlicht.

Castro war diszipliniert. Stur. Und einsam. Seinen deutschen Biographen Volker Skierka erinnerte sein Finale an García Márquez' Schilderung von Simón Bolívar, der 1830 allein an der kolumbianischen Küste entschlief. "Seine Gleichgültigkeit entsprang nicht Unbedachtheit oder Fatalismus", schrieb Gabo in seinem Buch "Der General in seinem Labyrinth", "sondern der melancholischen Gewissheit, dass er in seinem Bett sterben sollte, nackt, arm und ohne den Trost öffentlicher Dankbarkeit." Obwohl, das Urteil der Geschichte steht noch aus.

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