Muslimische FDP-Kandidatin:"Das Kopftuch spielt keine Rolle. Das Gehirn darunter ist wichtig"

Lesezeit: 3 min

Verwurzelt in Neumünster, in Ehrenämtern aktiv und nun auch für die FDP am Start: Aygül Kilic. (Foto: oh)

Aygül Kilic kandidiert in Neumünster für die Liberalen - mit einem Stück Stoff auf dem Kopf. Das schlägt Wellen bis nach Spanien. Eine Begegnung.

Von Peter Burghardt, Neumünster

Sie hatte geahnt, dass das mit ihrem Kopftuch und der Politik ein Thema werden würde. Klar, erst recht in diesen Zeiten, wie sollte es anders sein. Doch solcher Irrsinn wegen ihrer simplen Kandidatur für eine Kommunalwahl im Norden Deutschlands? "Ich hab' innerlich gefühlt, das wird eine Diskussion geben", sagt Aygül Kilic. "Aber so eine große Debatte, damit hatte ich natürlich nicht gerechnet. Diese Leute kennen mich doch überhaupt nicht."

Aygül Kilic sitzt im Bildungszentrum des Vicelinviertels in Neumünster. 48 Jahre alt, geboren in der Türkei, seit 1981 in Deutschland, tief verwurzelt in der Stadt, verheiratet und dreifache Mutter, angestellt in einem Kindergarten, seit Jahren Integrationslotsin, sozial außerordentlich aktiv. Und jetzt also Kandidatin der örtlichen FDP für diese Kommunalwahlen am Sonntag in Schleswig-Holstein und deshalb Figur im weltweiten Netz, weil sie mit einem weißen Hijab antritt.

Kaum hingen die Plakate, da begann der Shitstorm

Draußen vor den häufig etwas verwitterten Fassaden hängen vereinzelt ihre Plakate, die in manchen Kreisen Erregung auslösen. "Neumünster, Stadt der Chancen", steht da über ihrem Namen und dem der FDP, alles in den Farben der Partei. Dazu ihr Foto mit einem Kopftuch, wie sie es auch an diesem Nachmittag trägt, sie kommt gerade von der Arbeit in der Kita und einem Kochkurs für Frauen.

Sie ringt erst mit sich, bevor sie über die Sache spricht, verständlich. Kaum hingen Ende März ihre ersten Wahlfotos in den Straßen, einige davon hatte Aygül Kilic selbst geklebt, kaum machten die Bilder im Internet die Runde, da begann der Shitstorm. Die NPD zog zu Felde, sie stellt in Neumünster einen Ratsherrn. Die AfD verbreitete ihren Spott.

Bald stapelten sich die Hasskommentare. Da flogen Wörter wie Islamisierung und Scharia wild durcheinander, und schnell wurde es persönlich. Eine Netzzeitung unterstellte Aygül Kilic Nähe zu türkischen Extremisten und ihrem Mann eine Rolle bei einer umstrittenen türkisch-islamischen Vereinigung, beides falsch. Selbst in Spanien wurde ihr Fall publik, was damit zu tun hatte, dass der katalanische Separatistenführer Carles Puigdemont in Neumünsters Gefängnis saß. "Die Wahlplakate", so die Zeitung El País, würden "die Debatte über die kulturelle Identität Deutschlands wiederbeleben."

Die FDP verteidigte ihre Bewerberin und das Kopftuch standhaft, wobei auch auf der Website des Kreisverbandes Neumünster gezankt wurde. Eine Muslimin, die leicht als solche zu erkennen ist, fällt in den Reihen der Liberalen mehr auf als zum Beispiel eine blonde Jungunternehmerin. Religion und Politik, ein weites Feld. Auch wenn es hier um keinen Schleier geht, sondern um ein Kopftuch.

Aygül Kilic bekam nicht jeden Beitrag mit, aber viele. Manches meldete sie, aber man kriegt solche Lawinen ja nicht mehr in den Griff. Sie war krank, Interviewwünsche lehnten sie oder die FDP ab. Sie sei eine Putzfrau, sie könne kein Deutsch, alles mögliche bekam sie auf Facebook oder Twitter zu lesen. Sie solle in ihre Heimat verschwinden. "Das ist meine Heimat", sagt sie jetzt. "Wir leben hier, wir haben Kinder hier, Enkel, eine deutsche Schwiegertochter. Ich bin Deutsche." Sie hat einen deutschen Pass, keinen türkischen.

Ihre Tage sind gefüllt mit Job, Familie, Ehrenamt

Sie erzählt, es ist ihre Geschichte, eine erfolgreiche Geschichte.

Ihr Vater kam 1971 nach Neumünster, das damals eine Textilindustrie hatte. Zehn Jahre später holte er seine Familie aus der Türkei nach, Familiennachzug würde man das heute nennen. "Was", fragt sie, "wäre aus Deutschland geworden, wenn die Leute nicht aus der Türkei gekommen wären und hart gearbeitet hätten?"

Aygül Kilic war elf und kämpfte mit Vokabeln wie Brot oder Hefe. Ihre Mutter ist Analphabetin. Sie wurde selbst früh Mutter und kümmerte sich um die Kinder.

Und dann: Mit 40 holte sie ihren Hauptschulabschluss nach, danach die Mittlere Reife. Sie referierte über Gastarbeiterkinder in Deutschland, über Bildung, Sprache, Arbeit, Integration. Nun will sie das Abitur machen und studieren. Soziologie, ihr Traum.

Sie kocht und schwimmt mit Frauen, hilft bei Deutschunterricht, Sportstunden oder Mutter-Kind-Gruppen, übersetzt oder unterstützt Senioren. Ihre Tage sind gefüllt mit Job, Familie, Ehrenamt. Das Vicelinviertel, in dem sie früher wohnte, ist türkisch geprägt, zuletzt kamen viele Bulgaren und Rumänen dazu. Der Quartiermanager Alexander Kühn kann Helfer wie Aygül Kilic gebrauchen. "Ich habe ein Ziel", sagt sie, "dass Menschen zusammen kommen und Barrieren abbauen."

Der Hijab? "Soll ich das Kopftuch abnehmen und die Leute betrügen?", fragt sie zurück. "Das Kopftuch spielt keine Rolle. Das Gehirn darunter ist wichtig." Sie trage das Kopftuch seit ihrer Jugend, sie dränge es niemandem auf. Ihre Schwestern habe keines, ihre Schwiegertochter auch nicht. Sie selbst hat auch mal in der evangelischen Kirche gearbeitet, obwohl es in Vicelin Moscheen gibt, eine davon gleich hier schräg gegenüber.

Zur FDP kam sie über eine Bekannte, aufgeben will sie nicht. "Wenn ich auf die gehört hätte, die mir Steine in den Weg gelegt haben, dann hätte ich zu Hause gesessen und nichts erreicht", sagt sie. "Ich mache weiter, ja klar." Wahlkreis 6, Vicelin, Listenplatz neun.

© SZ vom 05.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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