FDP-Veteran Gerhart Baum im Interview:"Lindner verkörpert ein neues Denken"

Kritik am Neoliberalismus, Lob für Christian Lindner: Im SZ-Gespräch warnt der linksliberale Ex-Innenminister Gerhart Baum davor, zur Politik der Westerwelle-Jahre zurückzukehren - und beklagt die Attacken auf Parteichef Philipp Rösler: Kritik dürfe nicht in "diskriminierender Weise" geübt werden.

Oliver Das Gupta

Gerhart Baum, Jahrgang 1932, blickt auf eine lange politische Karriere zurück. Der Jurist amtierte unter anderem von 1978 bis 1982 als Bundesinnenminister unter Kanzler Helmut Schmidt, von 1982 bis 1991 bekleidete er das Amt des stellvertretenden FDP-Chefs. Der Rechtsanwalt hatte später mit Verfassungsbescherwerden gegen den großen Lauschangriff, das Luftsicherheitsgesetz und die Online-Durchsuchung in NRW Erfolg. Gerhart Baum setzt sich seit jeher für Bürger- und Menschenrechte ein und gehört zum linksliberalen Flügel der FDP. Im nordrhein-westfälischen Wahlkampf bezog sich FDP-Spitzenkandidat Christian Lindner immer wieder auf den Kölner FDP-Veteran Baum.

Gerhart Baum (re.) mit Christian Lindner im Landtagswahlkampf bei einem Auftritt in Düsseldorf. FDP

"Er meint es ernst": Gerhart Baum (re.) mit Christian Lindner im Landtagswahlkampf bei einem Auftritt in Düsseldorf.

(Foto: Getty Images)

Süddeutsche.de: Herr Baum, die FDP kam bei den Wahlen in NRW und Schleswig-Holstein sicher in die Landtage. Bedeutet dieser Doppel-Erfolg, dass die Partei nun gerettet ist?

Gerhart Baum: Wir haben uns stabilisiert, doch wer glaubt, die Partei sei gerettet, der irrt sich. Die tiefe Vertrauenskrise wirkt nach. An Christian Lindner und Wolfgang Kubicki sieht man aber, dass es möglich ist, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Ihnen haben die Bürger geglaubt. Aber damit ist die Bundestagswahl nicht gewonnen. Potentielle liberale Wähler müssen erst noch überzeugt werden, dass eine liberale Partei eine Existenzberechtigung hat.

SZ: Innerhalb weniger Monate haben Lindner und Kubicki ihre Parteien von drei Prozent auf acht Prozent gebracht. Wie haben sie das geschafft?

Baum: Beide Landesverbände haben sich im Wahlkampf von der Bundes-FDP abgekoppelt und hatten Erfolg damit. Bislang schlug immer der Bundestrend bei Landtagswahlen durch. Diesmal gab es zwei positive Landestrends, die durch überzeugende Einzelpersonen zustande kamen.

SZ: Parteichef Philipp Rösler amtiert bislang glücklos, er ist unbeliebt wie kein anderer Spitzenpolitiker, inzwischen raunen einige in der FDP von Putsch. Kann sich Rösler unter diesen Umstände noch halten?

Baum: Man muss mit Herrn Rösler anständig umgehen. Es ist feige, hinter seinem Rücken gegen ihn zu agieren. Kritik muss offen geäußert werden und nicht in diskriminierender Weise.

SZ: Anfang 2013 wählt Niedersachsen. Wird dort seine Messe gesungen?

Baum: Sicher: Mit dieser Wahl beginnt das Wahljahr 2013. Sie ist auch ein Gradmesser für Philipp Röslers Arbeit und auch für die des Generalsekretärs Patrick Döring, zumal beide auch aus Niedersachsen kommen. Entscheidend sind die Personen, mit der die FDP in die Bundestagswahl geht. Das entscheidet ein Bundesparteitag im Mai 2013.

SZ: Kommen wir noch mal zurück zu Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen. Rösler sagt, die Liberalen hätten auch deshalb gewonnen, weil die CDU "links geblinkt" habe. Lindner sagt hingegen: In NRW habe sich die FDP zu ihrer sozialliberalen Tradition bekannt und dabei hat er auch Ihren Namen genannt. Was stimmt denn nun?

Baum: Wenn Lindner auf die Traditionslinien hinweist, die durch die Namen Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff und durch meinen Namen verkörpert werden, dann meint er einen ganzheitlichen Liberalismus, wie er die FDP früher geprägt hat. In NRW haben viele Menschen für uns gestimmt, weil Christian Lindner für eine neue FDP steht. Mit ihm und durch ihn verändert sich die Partei. Lindner verkörpert ein neues Denken. Und er meint es ernst. Deshalb unterstützen Genscher, Klaus Kinkel und ich ihn auch aus voller Überzeugung.

SZ: Was soll dieses neue liberale Denken konkret enthalten?

Baum: Eine Wirtschaftspolitik, die auch gesellschaftliche Verantwortung einbezieht. Eine breit angelegte Bildungspolitik, die auch den Kindern aus Familien zugutekommt, die wegen niedriger Einkommen oder wegen eines Migrationshintergrundes geminderte Bildungschancen haben. Es sollte wie in den sechziger Jahren wieder heißen: 'Bildung für alle.' Bildung ist die wichtigste Ressource, die unser Land hat. Dazu gehört auch ein konsequentes Festhalten an der Bürgerrechtspolitik von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Auf diesem Felde wird die FDP von keiner Partei übertroffen. Und eine Politik, die gegen das wachsende Misstrauen gegenüber Parteien ankämpft und gegen die schleichende Demokratieentleerung in Deutschland und im Prozess der Weiterentwicklung der Europäischen Union. Und schließlich eine Außenpolitik, die angesichts der fundamentalen weltweiten Veränderungen neue Initiativen entwickelt, wie auf dem Felde der Abrüstung und in der Menschenrechtspolitik.

"Die Westerwelle-Politik darf nicht mehr an Boden gewinnen"

SZ: Die Zeit, in der Lambsdorff, Genscher und Sie die Partei führten und als Minister amtierten, liegt Jahrzehnte zurück. Die FDP von der Sie sprechen, gibt es momentan nicht. Die FDP von heute ist nach wie vor von Guido Westerwelle geprägt.

FDP-Chef Philipp Rösler

Erst ein Jahr im Amt: FDP-Chef Philipp Rösler

(Foto: dpa)

Baum: Ich hoffe, dass Lindner mit dem Rückenwind des Wahlerfolgs und in seiner Funktion als Landesvorsitzender in NRW Einfluss auf den Kurs der Gesamtpartei gewinnt. Die Politik der Westerwelle-Zeit darf auch nicht durch die Hintertür wieder an Boden gewinnen.

SZ: Wie will sich die FDP thematisch glaubhaft öffnen, wenn Teile Ihrer Führungsriege das Wort "sozialdemokratisch" als Kampfvokabel benutzen?

Baum: Die FDP ist keine sozialdemokratische Partei. Aber sie muss sich damit sachlich auseinandersetzen, dass es starke sozialdemokratische Tendenzen gibt. Den politischen Gegner zu verteufeln wäre grundfalsch. Er kommt ja auch als Koalitionspartner irgendwann in Betracht. Die FDP kann sich erneuern und sie muss sich erneuern. Der ganzheitliche Liberalismus ist in den letzten Jahren ausgetrocknet und muss dringend seine Substanz auffrischen. Man muss die FDP ja nicht neu erfinden. Die Traditionslinien der Liberalen müssen konfrontiert werden mit den neuen Herausforderungen. Das bedeutet auch: Die FDP muss wieder den Mut haben, zu kontroversen Diskussionen. Streit, so hat Ralf Dahrendorf das immer gesagt, ist ein Lebenselement der Demokratie. Nur dadurch kommt man zu neuen Lösungen.

SZ: Mit den Freiburger Thesen gab sich die FDP 1971 eine sozialliberale Ausrichtung. Was davon kann die FDP heute übernehmen?

Baum: Die darin festgelegten Grundsatzpositionen: Der Staat darf nicht alles, er muss den Bürgern und der Wirtschaft Entfaltungsmöglichkeiten geben. Das ist also eine Absage an Staatsgläubigkeit und Bevormundung. Auf der anderen Seite haben wir damals gesagt: Der Staat sind wir alle. Also: Politik muss von gesellschaftlicher Verantwortung geprägt sein. Wir nannten das damals "Brüderlichkeit".

SZ: Ihre tonangebenden Parteifreunde wettern gerne gegen "den Staat". Sie halten ihn nicht per se für eine Bedrohung?

Baum: Diese Feindseligkeit gegenüber einer gesellschaftlichen Ordnung, die auf die gestaltende Aufgabe eines Staates nicht verzichten kann, ist welt- und wirklichkeitsfern. Diese Vorstellung geistert noch immer in der FDP herum, wie auch eine Feindseligkeit gegenüber der Rolle der Gewerkschaften. Es ist doch naiv zu glauben, um nur ein Beispiel zu nennen, dass der Selbstlauf der Marktwirtschaft schon alles regeln würde. Das war ein schlimmer Irrtum, wenn man an die internationalen Finanzmärkte denkt.

SZ: Sollte die FDP im Zuge ihrer Erneuerung auch Koalitionen mit SPD und Grünen anstreben?

Baum: In einem Sechs-Parteien-System kann und sollte man keine Koalition mit anderen demokratischen Parteien ausschließen. Wahlkämpfe verleiten natürlich dazu, zuzuspitzen. Aber die Parteien haben mehr gemeinsam, als sie sichtbar machen und die politischen Handlungsspielräume sind für alle sehr eng.

SZ: Seit dem Aufkommen der Piraten wird es schwieriger, Mehrheiten zustande zu bringen. Sind Dreier-Bündnisse die Zukunft?

Baum: Die FDP - und auch die anderen Parteien - wären gut beraten, sie nicht auszuschließen. Denn die Alternative heißt dann "große Koalition". Diese sollte aber wirklich die Ausnahme bleiben.

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