Familiennachzug:Mousa, 13, darf seine Mutter nicht sehen

Migration: Unter dem ausgesetzten Familiennachzug leiden besonders minderjährige Flüchtlinge.

Der Schutz der Familie steht im Grundgesetz und in der Menschenrechtskonvention. Aber wie viel sind solche Bekenntnisse in der Praxis wert? Im Bild die Hände eines syrischen Jungen, der ohne Eltern auskommen muss.

(Foto: Peter Steffen/dpa)
  • Vor Jahren floh der heute 13-jährige Mousa vor dem Krieg in Syrien nach Deutschland, gemeinsam mit seinem Onkel.
  • Der Junge braucht seine Mutter, die aber hängt in der Türkei fest - und darf bisher nicht nach Deutschland nachkommen.
  • Die Geschichte des Jungen ist kein Einzelfall - und zeigt, was die große Koalition beim Thema Familiennachzug anrichtet.

Von Bernd Kastner

Dieses Lächeln lässt einen staunen. Da sitzt kein genervter Teenager auf dem Sofa, der ein paar Fragen über sich ergehen lässt, da sitzt ein 13-Jähriger und erwidert jeden Blick mit einem charmanten Jungslächeln. Und als Mousa von den Tomaten erzählt, wird daraus das Lachen eines Lausbubs. Es war daheim in Syrien, er stand mit Freunden am Fenster und wartete, bis unten jemand am Haus vorbeiging. Dann haben sie die Tomaten runterfallen lassen.

Mousa lässt sich auf dem Sofa nach hinten plumpsen, versteckt sein Gesicht hinter den Händen, lacht. Einmal hat die Tomate getroffen. Da war sein Zuhause in Homs noch heil, es war vor einer Ewigkeit.

Er wirkt jünger als 13, als wollte er länger Kind bleiben, weil ihm so viel genommen wurde. Seit fast drei Jahren lebt er ohne Mutter in Deutschland, und wahrscheinlich muss er noch lange ohne sie auskommen. Die große Politik will das so, genauer: die bisherige und die mögliche nächste große Koalition. Aus Mousas Leben ist ein Fall geworden. Die Akten liegen bei diversen Gerichten, in Dresden, in Berlin und in Karlsruhe, sie liegen im deutschen Konsulat in Izmir, im Auswärtigen Amt und im Asyl-Bundesamt. Keine Behörde hilft dem Kind, mit seiner Mutter zusammenzukommen, obwohl es Behörden waren, die ihn in diese Lage gebracht haben. "Es geht sehr schlecht", sagt der Junge und macht eine lange Pause.

Mousa hatte so auf diesen März gehofft. Dann darf deine Mutter kommen, haben alle gesagt

Seine Geschichte zeigt, was die abstrakten Beschlüsse zum Familiennachzug von Flüchtlingen anrichten, und sie wirft eine Frage auf: Wie ernst meint es gerade die SPD, wenn sie von Familie und Humanität spricht? In den Koalitionsverhandlungen hatten die Sozialdemokraten so sehr für den Nachzug gekämpft und die Union als hartherzig kritisiert. Im echten Leben aber ist es ausgerechnet das SPD-geführte Auswärtige Amt, das einer Mutter seit Jahren das Visum verweigert.

"Das geht lange, lange, und meine Mutter kommt gar nicht", sagt Mousa, der in Wahrheit anders heißt. Sein Deutsch ist schon gut, wenn auch manchmal Wörter durcheinanderpurzeln. Im ersten Jahr in Deutschland hat der Junge keine Schule besucht, da ist er zum ersten Mal durchs Raster gefallen. Die Behörden schickten ihn von Unterkunft zu Unterkunft, Berlin, Chemnitz, Schneeberg, Freital, Dresden. Jetzt geht er in die sechste Klasse und muss viel nachholen, aber das ist das geringere Problem. Was ihn viel mehr beschäftigt: "Ich brauche meine Mutter."

Eine Psychotherapeutin diagnostiziert eine Depression bei dem Jungen und benennt Symptome, die jeden Erwachsenen zu Boden drücken würden. Sie führt dies zurück auf die Abwesenheit der Mutter: "Nach Telefonaten oder Videoanrufen via Skype ist Mousa in Tränen aufgelöst und weint anhaltend." Je länger die Trennung andauere, desto größer sei die Gefahr, dass die Symptome chronisch werden. Seit der Diagnose sind acht weitere Monate vergangen. Mousa hatte so auf diesen März gehofft. Dann darf deine Mutter kommen, haben alle gesagt. Gerade eben aber hat er erfahren, dass der Bundestag mit den Stimmen von Union und SPD ein Gesetz verabschiedet hat. Er versteht das nicht, aber er weiß, was es bedeutet: Dass er noch über Monate, wenn nicht Jahre seine Mutter nur auf dem Handydisplay sieht.

Neben Mousa auf dem Sofa sitzt sein Onkel. Der Bruder von Mousas Mutter war erst 25 Jahre alt, als er 2015 zusammen mit seinem damals zehnjährigen Neffen Deutschland erreichte. Da waren sie noch überzeugt, dass die Mutter rasch nachziehen dürfe, auf sicherem Weg. So aber muss der Onkel dem Jungen seit Jahren Vater und Mutter ersetzen. Die Verantwortung lastet schwer auf ihm. "Ich mache alles für ihn", sagt er, "aber ein Kind braucht seine Mutter." Mousa wächst fast wie ein Waise auf. Die große Koalition, die Behörden, die Gerichte haben es so entschieden. "Er meckert viel", sagt der Onkel und lacht. Stimmt das? Mousa grinst verlegen: "Ja, manchmal."

Er versuchte, zu seiner Mutter zu reisen, doch die Polizei schickte ihn zurück

Zu seinem Vater hat Mousa keinen Kontakt. Seine Mutter hängt in der Türkei fest. Sie arbeitet in einer Schule, hat sogar die türkische Staatsbürgerschaft angenommen, in der stillen Hoffnung, dass man notfalls in der Türkei zusammenfinden könnte. Vor ein paar Wochen reiste Mousa mit seinem Onkel in die Türkei, ein Touristenvisum der türkischen Botschaft in Berlin im Pass. Er wollte unbedingt seine Mutter sehen, und sei es nur für ein paar Tage. Aber am Flughafen in Istanbul war Schluss: "Die Polizei hat gesagt, ich darf nicht meine Mutter sehen." Angeblich, weil Mousa 2015 illegal ausgereist ist, damals, auf der Flucht. Dann sagte die Polizei, Mousa und sein Onkel müssten zurück. Der Onkel erzählt, dass Mousa anschließend einen seiner Migräneanfälle erlitten und dann sehr viel geweint habe.

Kurz zuvor war Mousa 13 geworden, hinterm Sofa hängt noch die Happy-Birthday-Girlande. Onkel und Neffe wohnen zusammen, Mousa hat kein eigenes Zimmer, die Wohnung ist klein, aber schön eingerichtet. Die Küchenschränke ganz in rot, das Wohnzimmer schwarz-weiß. Neben dem Fernseher klebt ein roter Luftballon, er hat viel Luft verloren. Mousa und seine Mutter verließen Syrien 2013, ihr Wohnhaus war bombardiert worden. Sie flohen nach Ägypten, nach einem Jahr weiter in die Türkei. Es wurde 2015, die Familie zahlte einem Schleuser Tausende Euro für die Überfahrt nach Griechenland, nach zwei Monaten erreichten Mousa und sein Onkel Berlin.

Familiennachzug

Ende Januar hat der Bundestag mit den Stimmen der großen Koalition beschlossen, dass der Familiennachzug zu subsidiär schutzberechtigten Flüchtlingen bis Ende Juli ausgesetzt bleibt. Anschließend sollen maximal 1000 Angehörige pro Monat einreisen dürfen. Nach welchen Kriterien sie ausgewählt werden, ob etwa der Zeitpunkt des Antrags zählt, ist völlig offen. Dies wollen Union und SPD in den kommenden Monaten aushandeln. Aufgrund der bisherigen Nachzugszahlen ist zu erwarten, dass etwa 60 000 Menschen zu ihren Angehörigen mit subsidiärem Status nachziehen wollen. Berechtigt sind grundsätzlich nur Ehepartner, Kinder und Eltern von Minderjährigen. Bernd Kastner

Dort wird dem Jungen das Chaos zum Verhängnis, die Ämter vergessen ihn. Nach einem dreiviertel Jahr bittet der Onkel die Dresdner Anwältin Vanessa Kayser um Hilfe, und erst ihr fällt auf, dass der Onkel bereits als Flüchtling anerkannt ist. Für Mousa aber ist noch nicht mal ein Asylantrag gestellt. Dabei hat der Onkel sich ordnungsgemäß mit seinem Neffen gemeldet, man kann das nachprüfen in der "Büma", so nennt sich das entsprechende Formular, die "Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender" vom 23. Juni 2016 in der Zentralen Aufnahmestelle Berlin. Beim Asyl-Bundesamt geht die Büma am 23. Oktober 2015 ein. Aber niemand kümmert sich um den Asylantrag für Mousa.

Seitdem das Asyl-Bundesamt Syrern nur noch subsidiären Schutz gibt, ist vieles anders

Dem Onkel wächst vieles über den Kopf, wer könnte es ihm verdenken. Er weiß nicht, dass er formal das Sorgerecht für den Neffen benötigt, um den Asylantrag zu stellen. Vielleicht hat es ihm niemand gesagt, vielleicht hat er es nicht verstanden, er spricht damals noch gar kein Deutsch. Ein Gericht muss ihn zum Vormund bestellen, das dauert. Zunächst ist das Amtsgericht Dippoldiswalde zuständig, doch weil Junge und Onkel nach Dresden verlegt werden, wird das Verfahren beendet. In Dresden muss das nächste Gericht ein neues Verfahren eröffnen, Woche um Woche vergeht. Anwältin Kayser, zum Vormund für Mousas Rechtsangelegenheiten ernannt, kann erst im April 2016 den Asylantrag für den Junge stellen. Das ist zu spät.

Im Monat davor hat die große Koalition den Familiennachzug für subsidiär Geschützte ausgesetzt, also für Bürgerkriegsflüchtlinge. Seither dürfen nur noch jene ihre Angehörigen nachholen, die eine Anerkennung als Flüchtling haben. Der Onkel hat sie noch bekommen, doch das Asyl-Bundesamt ändert seine Entscheidungspraxis, seither erhält die Mehrzahl der Syrer subsidiären Schutz - die Angehörigen dürfen nicht nachkommen. Für zwei Jahre nur, versprach die Bundesregierung, für Härtefälle gebe es humanitäre Lösungen.

Zwei Anwältinnen versuchen, Mousa zu helfen. Neben Vormund Vanessa Kayser engagiert sich Sigrun Krause von "Jumen", einem Berliner Menschenrechtsverein, der das Recht auf Familiennachzug juristisch durchsetzen will. Weil bei einem Kind die Zeit drängt, will sie im Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht Berlin das Auswärtige Amt verpflichten lassen, der Mutter ein Visum zu geben, gerne als Härtefall. Die erste Instanz lehnt ab, die zweite ebenfalls, die Richter verweisen auf Paragraf 104 Aufenthaltsgesetz. Den hält Krause für verfassungswidrig, weshalb sie das oberste deutsche Gericht in Karlsruhe anruft. Für Krause ist der Schutz der Familie ein Menschenrecht, sie verweist auf das Grundgesetz und die UN-Kinderrechtskonvention. Wann das Bundesverfassungsgericht entscheidet, weiß niemand.

Mousa erzählt, dass er Freunde gefunden habe. Dass er in der Schule am liebsten Sport hat "und ein bisschen Mathe". Er mag seine Lehrerin, sie weiß auch, was ihn umtreibt. Er habe ihr schon erzählt, was in der Türkei geschehen sei, "und sie ist traurig". Dem Onkel hat die Lehrerin berichtet, dass der Junge sich oft nicht konzentrieren könne und in Gedanken ganz woanders sei. Bei der Mutter? "Ja", sagt Mousa.

Es läuft eine zweite Klage, um Mousa den Flüchtlingsstatus zu geben, dann dürfte seine Mutter einreisen. Statistisch sind seine Chancen gut, fast 70 Prozent der Syrer hatten zuletzt Erfolg bei den Richtern. Die Klage liegt seit eineinhalb Jahren beim Verwaltungsgericht Dresden, es ist überlastet, wie alle Verwaltungsgerichte.

Die Mutter, so beschwichtigt das Auswärtige Amt, "telefoniert täglich mit dem Kind"

Was bleibt für Mousa, ist die Härtefallklausel, über die in den Koalitionsverhandlungen so viel gestritten wurde. Glaubt man der SPD, ist Paragraf 22 im Aufenthaltsgesetz der Ausgleich für die neuen Barrieren, weil er den besonders Schutzbedürftigen helfe. Doch das von Sigmar Gabriel geführte Auswärtige Amt bleibt dabei: ein Visum für Mousas Mutter? Nein! Der Härtefall müsse bei dem Familienmitglied vorliegen, das nachziehen will, also bei der Mutter. Dass es ihrem Sohn sehr schlecht geht - egal. Die Mutter sei obendrein selbst schuld an der Trennung der Familie, das Ministerium spielt deren Auswirkung herunter: "Das Kind befindet sich in Betreuung durch seinen ihm vertrauten Onkel." Die Mutter "telefoniert täglich mit dem Kind und hält auf diese Weise einen dauerhaften Kontakt. Es besteht deshalb kein Risiko einer Entfremdung."

Eine bemerkenswerte Argumentation, ist doch das Auswärtige Amt damit Ende 2017 gescheitert. Da ging es um den Nachzug von Eltern und Geschwistern zu einem psychisch angeschlagenen 16-jährigen Syrer. Das Verwaltungsgericht Berlin entschied, dass es sehr wohl auf das in Deutschland lebende Kind ankomme. Sofort legte das Ministerium Berufung ein, um den Nachzug doch noch zu verhindern.

Dann aber scheint Ex-SPD-Chef Gabriel realisiert zu haben, wie unglaubwürdig er sich macht. Also ließ er die Berufung zurückziehen, was er sogleich in der Tagesschau erklärte: Die Sozialdemokraten hätten "immer gesagt", dass die Kinderrechtskonvention "von besonderer Bedeutung" sei, und es "schlecht" sei, wenn Minderjährige ohne Eltern in Deutschland lebten. Gabriel begrüßte das Urteil zugunsten des Kindeswohls: "Dass wir jetzt Klarheit bekommen, ist eine gute Geschichte." Es klang wie der Beginn einer neuen Linie, zugunsten der Humanität.

Die Mutter weint. Und sie fragt: "Wo ist die Menschlichkeit?"

Und für Mousa? Da lässt sich Gabriels Haus kurz nach jenem Urteil lediglich eine neue Begründung einfallen für sein Nein: Weil noch Gerichtsverfahren anhängig sind, sei nicht einmal ein "Sondertermin" möglich, um einen Härtefallantrag zu stellen. Das heißt: Weil Musas Mutter in ihrer Verzweiflung Gerichte angerufen hat, lehnt das Außenamt ab, eine humanitäre Lösung auch nur zu prüfen. Das war im Januar. Und heute? Laufendes Verfahren, kein Kommentar aus dem Außenamt.

Gut zwei Stunden sind vergangen, Mousa sitzt noch immer konzentriert auf dem Sofa. Vanessa Kayser, Mousas Vormund, muss jetzt telefonieren, ihr ist nicht wohl dabei. Sie will der Mutter via Skype erklären, dass der März nicht die Erlösung bringt, dass aus den vergangenen fast drei Jahren vier, fünf oder noch mehr werden können. Selbst auf dem kleinen Handy-Display ist zu sehen, wie sehr diese Nachricht Mousas Mutter entsetzt. Sie weint, fragt: "Wo ist die Menschlichkeit?" Mousa schaut auf das Telefon, sein Lächeln wirkt jetzt sehr traurig.

Wenige Tage später hat seine Mutter erneut einen Termin im deutschen Konsulat in Izmir. Sie ist viele Stunden dorthin unterwegs, sie hofft, zumindest einen Antrag auf ein Visum stellen zu dürfen. Aber wieder wird sie abgewiesen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: