Familie:Mein Sohn, mein Kumpel

Eltern wollen heute gern mit ihren Kindern befreundet sein. Experten warnen: Dies kann zum Problem werden.

Von Ulrike Heidenreich

Es sind irritierende Momente: Mutter und Tochter, Vater und Sohn gehen nebeneinander die Straße entlang. Wer ist Kind? Wer ist Erwachsener? Von hinten sind sie auf den ersten Blick nicht auseinanderzuhalten, auch für nahe Verwandte. Weil beide ihre Kleidung untereinander getauscht haben, wie sie das oft tun.

Nicht nur äußerlich, auch innerlich werden Eltern ihren Kindern immer ähnlicher. Sie rücken ihnen nahe. Sie fühlen sich lieber als deren Freunde denn als Erzieher. Die Konrad-Adenauer-Stiftung warnt nun vorsichtig: Das Verschwinden der Generationenkluft berge Risiken und Nebenwirkungen.

"Jugendlichkeit ist zum generationenübergreifenden Maßstab aufgewertet worden, Alter gilt zunehmend als unattraktiv", sagt Christine Henry-Huthmacher, die für die Adenauer-Stiftung gesellschaftspolitische Entwicklungen beobachtet. Sie macht dies an einem Detail fest: "Symbol dafür sind die Turnschuhe, die mittlerweile über alle Altersgrenzen hinweg getragen werden." Stimmt aber auch umgekehrt: Welche Tochter hätte in den 1960er-Jahren gerne das züchtige, wadenlange Kleid der Mutter angezogen?

Vor zwei Jahren gaben 90 Prozent der befragten Jugendlichen in der Shell-Studie an, dass sie gut mit ihren Eltern auskommen. Vor 40 oder 50 Jahren hätte diese Frage wahrscheinlich das umgekehrte Ergebnis gebracht. "Die Lebensstile von Eltern und Kindern in der Mittelschicht haben sich angeglichen. Auf Vorschriften bezüglich Kleidung, Berufswahl, Freizeitgestaltung oder Sex verzichten moderne Eltern längst", sagt Gerlinde Unverzagt, die im Auftrag der Adenauer-Stiftung die neue Nähe untersucht hat. Die Gründe lägen im "erzieherischen Paradigmenwechsel". Autoritäre Erziehungsstile gehören der Vergangenheit an.

Der Harmonie zwischen den Generationen gewinnt Unverzagt jedoch auch negative Aspekte ab: "Sie kann jungen Erwachsenen den Schritt ins eigene Leben erschweren - weil es schwieriger wird, sich von Eltern abzugrenzen, die alles daransetzen, nicht viel älter als ihre Kinder zu wirken." Das Resultat: In solchen Fällen sind die Kinder häufiger unselbstständig und bequem.

Laut Statistischem Bundesamt leben 42 Prozent der Deutschen zwischen 18 und 29 Jahren im Elternhaus; Tendenz steigend. In diese Entwicklung spielt viel hinein: hohe Mieten, die man sich sparen will, aber auch veränderte Rollenbilder und Familienformen. Vor allem Scheidungskinder zögerten den Auszug hinaus, weil sie das Abenteuer neuer Bindungen scheuten und lieber im sicheren Hafen blieben. Das vermutete schon die legendäre amerikanische Psychologin und Scheidungsforscherin Judith Wallerstein.

Dass Eltern und Kinder sich heute so nahestehen wie nie zuvor, hat auch eine profane Ursache: die digitale Nabelschnur. Mehr als die Hälfte der über 18-Jährigen hat jede Woche Kontakt zu den Eltern, ohne umständlich einen Brief zu schreiben und eine Marke draufkleben zu müssen. Eine SMS, eine Mail, eine Whatsapp-Nachricht sind schnell verschickt. Oder ein Foto samt Text: "Schau mal, dieser Anorak, sollen wir uns den kaufen?"

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