Fall Nadja Drygalla:Scheinheiliges Wedeln mit dem moralischen Putzlappen

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Die Gesinnungsschnüffelei ist eine der großen deutschen Untugenden. Wir müssen aushalten, dass die Sportlerin Nadja Drygalla einen Mann liebt, der die Prinzipien der Demokratie nicht liebt. Sie sollte sich lediglich die Frage stellen lassen, ob eine Olympionikin nicht in der Pflicht ist, ihrem beschränkten Geliebten den Blick auf die Vielfalt der Völker und Kulturen zu öffnen. Alles andere aber geht zu weit.

Hilmar Klute

Wir haben es in Deutschland seit einigen Jahren gerne etwas sauberer. Das ist längst keine Beobachtung einzelner soziologisch angespitzter Motzköpfe mehr. Zu offensichtlich ist inzwischen das Bedürfnis ausgeprägt, den Bürger mit dem Mittel der Verordnung auf dem Tugendpfad zu halten: das Rauchverbot, der Beschluss, das Alkoholtrinken in S-Bahnen und bald wohl auch in Zügen zu untersagen, sowie die Weisung, auf möglichst vielen Straßen nicht schneller als 30 zu fahren - all dies dient ja nicht allein dazu, das Leben der Menschen sicherer zu gestalten. Es dient auch dem unanständigen Zweck, es anständiger machen zu wollen.

In diesem großen Reinhalteprojekt hat bislang eine Größe gefehlt, die man mit dem moralischen Putzlappen ganz schlecht packen kann, an der jetzt aber doch verzweifelt herumgewischt wird: die Gesinnung. Als publik wurde, dass die deutsche Olympionikin Nadja Drygalla einen Freund aus rechtsextremen Kreisen hat, kam sofort die Frage auf, wie es Drygalla selbst mit den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit halte. Ihre Antwort musste nicht abgewartet werden, denn es reichte schon aus, dass ein paar Tugendakrobaten Zweifel an der Gesinnung der jungen Frau hegten. Sie hat zwar nichts in der Richtung gesagt, im Gegenteil sogar jedwedem rechtslastigen Gedankengut abgeschworen. Doch allein der Verdacht genügt, um die ideologische Putzkolonne zu bestellen.

Was aber gibt es Windigeres, Ungriffigeres als eine Gesinnung? Wie abweichend vom sogenannten demokratischen Diskurs darf eine innere Einstellung denn sein? Es gibt, erstens, keinen Nacktscanner fürs Gehirn und, zweitens, muss eine demokratische Gesellschaft Ansichten aushalten, die ihr entgegenstehen, solange diese Ansichten nicht in Hetze, Diffamierung und Militanz ausarten.

Aber das ist bei Drygalla so wenig der Fall wie beim russischen Bassbariton Evgeny Nikitin. Der Sänger war in Bayreuth für die Rolle des "Fliegenden Holländers" auserkoren. Dann stellte sich aber heraus, dass Nikitin ein inzwischen von anderen Tätowierungen halb überdecktes Hakenkreuz trug. Der Mann musste gehen, obwohl er eine Erklärung für die Verwendung des Emblems hatte, nämlich dass er vor zwanzig Jahren in Russland die Swastika als Protest-Logo verwendet hatte, ohne auf das Dritte Reich zu rekurrieren.

Man muss vor derlei Rechtfertigungen nicht gleich verständnisinnig in die Knie gehen. Aber man kann versuchen, sie zu verstehen und dem Erklärenden konzedieren, dass er etwas dazugelernt hat. Mit derlei Differenzierungen gibt man sich ungern ab, im Besonderen das Haus Wagner. Dort tut man sich ja bis heute schwer, die hauseigenen Archive zu öffnen, in denen die Verstrickung der Familie mit dem Hitler-Regime dokumentiert ist.

Die Gesinnungsschnüffelei ist eine der großen deutschen Untugenden. Es gab sie unter der harten Hand des Fürsten Klemens von Metternich, der 1819 mit den Karlsbader Beschlüssen öffentliche Meinung und Presse streng kontrollieren ließ. Auch die Demokratie nahm die Gesinnung ins Visier, zuletzt 1972, als Willy Brandt mit dem Radikalenerlass linken Lehrern den Weg zum Schulamt versperren ließ.

Der kindische Vorschlag von Innenminister Hans-Peter Friedrich, Sportler einem Gesinnungstest zu unterziehen, steht in dieser staubigen Tradition. Und selbst im Zeitalter der digitalen Ubiquität wird Gesinnung zum Fetisch, wenn ein Klick auf den Like-Button einer mit Facebook verlinkten politischen Website genügt, um vor den Augen der User als vermeintlicher Vertreter einer Haltung dazustehen, die man gar nicht vertritt; denn man wollte über den Button nur ein paar Informationen abrufen.

Was ist undemokratischer als jemanden, an dessen Einstellung Zweifel bestehen, vom Platz zu weisen? Wir müssen aushalten, dass Nadja Drygalla einen Mann liebt, der die Prinzipien der Demokratie nicht liebt. Sie sollte sich aber bitte die Frage stellen lassen, ob eine 23 Jahre alte Frau die Ekelhaftigkeiten eines Neonazis, der Gedenkfeiern für die Opfer der NSU-Morde torpediert, in Ordnung findet. Oder ob eine im internationalen Wettbewerb stehende Olympionikin nicht in der Pflicht ist, ihrem beschränkten Geliebten den Blick auf die Vielfalt der Völker und Kulturen zu öffnen.

Diese pädagogische Leistung zu erbitten, ist legitim. Aber nur Kleingeister, die nichts von den Verwerfungen verstehen, die Menschen in schwierigen Beziehungskonstellationen erleiden, verteidigen die Gesinnungsschnüffelei. Man darf in diesem Land nicht alles sagen, und das ist gut. Aber man darf alles denken, selbst die dämlichsten und unsaubersten Dinge. Und das ist auch gut.

© SZ vom 10.08.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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