Fall Dschaber al-Bakr:Sachsen, ein Trauerspiel

Es ist schäbig, wie sich die Verantwortlichen nach dem Suizid von Dschaber al-Bakr herausreden wollen. Der Fall gehört vor einen Untersuchungsausschuss.

Kommentar von Heribert Prantl

Im ersten Akt von Shakespeares Tragödie Hamlet steht der berühmte Satz "Something is rotten in the state of Denmark." Man darf Dänemark heute durch "Freistaat Sachsen" ersetzen. Die Fehler der Polizei, der Ermittlungsbehörden und der Justiz addieren sich zu einem großen Trauerspiel.

Dieses Trauerspiel beginnt damit, dass rechtsradikale Randalierer und Gewalttäter in Sachsen viel zu ungehindert auftrumpfen konnten und können. Und das sächsische Trauerspiel endet vorläufig mit den Szenen der Unfähigkeit, in deren Mittelpunkt der Terrorverdächtige al-Bakr steht.

Erst missglückte die Festnahme dieses intensiv observierten Mannes. Dann, als er von syrischen Landsleuten festgenommen und der Polizei übergeben worden war, war der Justizvollzug nicht in der Lage, diesen allgemein- und selbstgefährlichen Mann vor sich selbst zu schützen. Man muss kein Terrorexperte sein, um zu wissen, dass bei einem Selbstmordattentäter mit einem Suizid zu rechnen ist. Die Justiz hat einen schweren Fehler gemacht, als sie al-Bakr nicht in einem "bgH", einem besonders gesicherten Haftraum unterbrachte. Fehler können passieren. Es ist aber schäbig, wie sich der Landesjustizminister und der Leiter der Vollzugsanstalt herauszureden versuchen. Der Fall al-Bakr samt Vorgeschichte gehört vor einen Untersuchungsausschuss.

Eine Rechtsgrundlage für Dauerüberwachung hätte es sehr wohl gegeben

Es stimmt nicht, dass es im sächsischen Recht, dem dortigen Untersuchungshaftvollzugsgesetz, keine Rechtsgrundlage für eine intensive Dauerüberwachung dieses Häftlings gegeben hätte. Diese Rechtsgrundlage findet sich unter Paragraf 49 des genannten Gesetzes, der mit "besondere Sicherungsmaßnahmen" überschrieben ist. Wenn man aber nicht in der Lage ist, die Besonderheiten eines Falles zu erkennen, dann hilft auch das schärfste Gesetz nichts.

Der Fall al-Bakr ist ein Beleg dafür, dass es nicht an einschlägigen Kompetenzen und Gesetzen fehlt, wie in der Politik der inneren Sicherheit immer wieder behauptet wird. Es fehlt nicht an Haftgründen, es fehlt nicht an Kompetenzen für Polizei und Verfassungsschutz. Im Falle Sachsen mangelt es offenbar an der Fähigkeit der Sicherheitsbehörden, es mangelt an der nötigen Sorgfalt, am Verantwortungsbewusstsein und an der Akkuratesse; es fehlt an alledem offenbar hinten und vorne.

Die Art und Weise, wie sich die Verantwortlichen im Fall al-Bakr aus ihrer Verantwortung herauszureden versuchen, spricht Bände. Der zuständige Justizminister sagt, dass er politische Verantwortung übernehme. Er übernimmt aber gar nichts. Landläufig ist mit der Übernahme politischer Verantwortung gemeint, dass ein Minister zurücktritt - und damit zugibt, dass schwerwiegende Fehler gemacht wurden, die in seinen Zuständigkeitsbereich fallen, auch wenn er persönlich nichts dafür kann. In Sachsen ist das offenbar anders. Da heißt politische Verantwortung nur, dass man die Vorgänge aufklärt. Das klingt so, als gäbe es auch die Möglichkeit, sie nicht aufzuklären. Es ist absurd.

Das sind keine Lappalien, das sind grobe Amtspflichtverletzungen

Die Verantwortlichen in Sachsen tun so, als sei das, was passiert ist, halt irgendwie passiert - Schicksal sozusagen. Das Schicksal hat es also gefügt, dass ein Terrorverdächtiger sich in der Haft umgebracht hat. Das Schicksal hat es gefügt, dass nun leider Aufklärung und Prävention von Terrorakten nicht mehr möglich ist. Von der Vernehmung des Verhafteten hätte man Erkenntnisse über Terrorstrukturen in Deutschland erwarten können. Womöglich hätte der Mann Angaben zu geplanten Attentaten machen können. Womöglich hätte er Auskunft geben können über Kontaktpersonen in Deutschland und in Syrien. Die grobe Fahrlässigkeit des Anstaltsleiters in Leipzig hat einen Untersuchungsgefangenen das Leben gekostet und wichtige Ermittlungen vereitelt. Das sind keine Lappalien, das sind grobe Amtspflichtverletzungen.

Demokratie hat viel mit Verantwortung zu tun. Verantwortung heißt Rechenschaft ablegen. Rechenschaft beginnt damit, dass man der Gesellschaft Antworten gibt. Man wartet auf Antworten aus Sachsen.

Anmerkung der Redaktion: Wegen der wissenschaftlich belegten Nachahmerquote nach Selbsttötungen haben wir uns entschieden, in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche zu berichten, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Diese Bedingung sehen wir im Fall des Terrorverdächtigen Dschaber al-Bakr gegeben, denn wie und warum er zu Tode kam und welche Konsequenzen daraus abzuleiten sind, ist Gegenstand einer relevanten öffentlichen Debatte. Dennoch gestalten wir die Berichterstattung bewusst zurückhaltend und verzichten, wo es möglich ist, auf Details.

Wenn Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (http://www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.

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