Terroranschlag in Berlin:Warum die Behörden warteten, bis es zu spät war

Einen Monat nach dem Terroranschlag

Mit einem Lkw fuhr Anis Amri am 19. Dezember auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin. Er dabei zwölf Menschen, mehr als 50 wurden verletzt.

(Foto: dpa)
  • Der Untersuchungsausschuss im Landtag in Nordrhein-Westfalen hat ermittelt, dass die Behörden früh wussten, dass der Berliner Attentäter Anis Amri gefährlich sein könnte.
  • Durch viele Umzüge entzog er sich den Ermittlern und Zuständigkeiten, obwohl es Haftgründe für den Mann gegeben hätte.
  • Für das Versagen im Fall Amri will von den Verantwortlichen aber keiner die Verantwortung übernehmen.

Von Jan Bielicki, Düsseldorf, und Stefan Braun, Berlin

Es wird spät werden. Am Abend des letzten Plenartags vor der Landtagswahl muss Hannelore Kraft Rede und Antwort stehen. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin wird am Freitag im Untersuchungsausschuss des Landtags vernommen zu der Frage, ob wer wann welche Fehler begangen hat im Umgang mit Anis Amri, bevor der Lkw-Attentäter am 19. Dezember vor der Berliner Gedächtniskirche zwölf Menschen totfuhr. Dazu ist seither manches klarer geworden, vieles aber im Dunkeln geblieben.

Wer untersucht den Fall Amri?

Mit Anis Amri waren Behörden des Bundes, aber auch der Länder, vor allem in NRW und Berlin, befasst. In Düsseldorf tagt ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss; ein Sondergutachter der Landesregierung hat einen Bericht vorgelegt. In Berlin weigerte sich die Mehrheit im Abgeordnetenhaus, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen; der Senat hat einen Sonderermittler benannt. Im Bundestag gab es drei Sondersitzungen des Innenausschusses; außerdem kam das Parlamentarische Kontrollgremium zu Sitzungen zusammen. Es kontrolliert die Geheimdienste und damit auch die Arbeit des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums GTAZ. Die Grünen im Bundestag fordern einen Untersuchungsausschuss. Das dürfte schwierig werden: Die Legislaturperiode endet.

Haben die Behörden Amris Gefährlichkeit erkannt?

Sogar sehr früh. Im Juli 2015 war Amri unter falschem Namen eingereist, und schon im Dezember geriet er in den Blick des nordrhein-westfälischen Landeskriminalamts (LKA), das im Auftrag des Generalbundesanwalts (GBA) Ermittlungen gegen eine Gruppe um den radikalen, im November 2016 verhafteten Prediger Abu Walaa führte. Dieser steht unter dem Verdacht, führender Kontaktmann der Terrortruppe IS in Deutschland zu sein. Ein V-Mann meldete, dass ein gewisser Anis Kontakt zur Gruppe habe. Also wurde Amris Handy überwacht. Ergebnis: Im Februar 2016 stufte das LKA Amri als Gefährder ein und legte den Fall dem GTAZ vor. Insgesamt elf Mal wurde der Fall dort besprochen; das Risiko eines Anschlags durch Amri wurde dort jedoch als "eher unwahrscheinlich" bewertet. Der Grund: Bislang wurde im GTAZ nicht gefragt, wie gefährlich eine Person ist, sondern wie wahrscheinlich ein Anschlag sein würde. Seit dem Anschlag rücken die Täter in den Blickpunkt.

Was taten die Sicherheitsbehörden?

Im März 2016 schlug das LKA dem NRW-Innenministerium vor, beim Generalbundesanwalt ein Ermittlungsverfahren wegen Vorbereitung einer Terrortat anzuregen - und Amri abzuschieben. Weil "durch den Amri eine terroristische Gefahr in Form eines (Selbstmord-)Anschlages ausgeht", solle Innenminister Ralf Jäger (SPD) jenen Paragrafen 58a des Aufenthaltsgesetzes anwenden, der die Abschiebung "zur Abwehr einer terroristischen Gefahr" vorsieht.

Warum wurde die Abschiebung nicht sofort angeordnet?

Paragraf 58a ist seit seiner Schaffung 2005 so gut wie nie angewendet worden ist. Erst unter dem Eindruck des Anschlags von Berlin wurde das bei anderen Islamisten versucht und vom Bundesverwaltungsgericht gebilligt. Vorher jedoch glaubte man im NRW-Innenministerium nicht daran, damit vor Gericht durchzukommen - eine Einschätzung, die Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und sogar ein Rechtsgutachter im Auftrag der FDP nachvollziehbar nannten. Statt dessen betrieben die Ausländerbehörden des Landes gemeinsam mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine beschleunigte Ablehnung seines Asylantrag - mit Erfolg. Im Juni 2016 war der Antrag abgewiesen; Amri war seither vollziehbar ausreisepflichtig.

Warum kam er nicht in Abschiebehaft?

Haftgründe hätte es gegeben. Amris falsche Identitäten und unangemeldete Wohnsitzwechsel legten nahe, dass er sich einer Abschiebung entziehen würde. Abschiebehaft ist aber nur zulässig, wenn eine Abschiebung innerhalb von drei Monaten möglich ist. Nach den Erfahrungen der Zentralen Ausländerbehörde Köln dauerte es bei den tunesischen Behörden aber mindestens sechs Monate, bis Passersatzpapiere eintrafen.

Hinzu kam, dass erst Ende Juli 2016 die seitens Tunesien geforderten Handflächenabdrücke von Amri genommen wurden - und das auch noch zufällig, als er am Bodensee bei einer Kontrolle aus einem Bus geholt worden war. Am 24. Oktober kam von Interpol Tunis die Botschaft, Amri sei Tunesier. Das war noch keine offizielle Bestätigung, aber spätestens von da an wäre absehbar gewesen, dass das Verfahren keine drei Monate mehr gedauert hätte und Abschiebehaft möglich gewesen wäre - das jedenfalls behauptet der Bundesinnenminister. Trotzdem stellten die NRW-Behörden den Antrag nicht.

Warum wurde Amri nicht mehr überwacht?

Amri wechselte immer wieder das Bundesland. Im März 2016 regte der Generalbundesanwalt an, die Generalstaatsanwaltschaft Berlin solle die Ermittlungen übernehmen; Amri hielt sich inzwischen vor allem dort auf. Zunächst überwachte das Berliner LKA Amris Handy. Diese Überwachung endete aber im September, weil das LKA den Eindruck hatte, der Mann deale zwar, wende sich aber ab von der islamistischen Szene. Die LKA-Beamten in NRW sprechen heute von einem "großen Fehler" ihrer Berliner Kollegen.

Hätte man Amri nicht in Untersuchungshaft nehmen können?

Gegen Amri liefen bei verschiedenen Staatsanwaltschaften mehrere Ermittlungsverfahren; meist aber wegen Delikten, die normalerweise nicht in die U-Haft führen. Allerdings wurde er Ende Juli 2016 in Friedrichshafen mit gefälschten italienischen Ausweisen erwischt; kurz zuvor war er in Berlin in eine Schlägerei im Drogenmilieu verwickelt. Doch wieder sahen die Staatsanwaltschaften keinen Grund für eine U-Haft. Erst Anfang Dezember wurde er zur Fahndung ausgeschrieben.

Wurden Konsequenzen gezogen?

Bundesregierung und Parlament verabschiedeten binnen Wochen drei Gesetzesverschärfungen: bei der Ausreisepflicht, bei der Abschiebehaft und indem sie Fußfesseln für Gefährder einführten.

Wie erklärt die Politik das Desaster?

Die einen, das gilt etwa für Nordrhein-Westfalens Innenminister Jäger, sehen eine Aneinanderreihung von Pannen, die höchst bedauerlich sind, wollen aber die Verantwortung nicht einem Einzelnen zuordnen. Die anderen, das sind vor allem Christdemokraten in Berlin, wollen die Strukturen der föderalen Sicherheitsbehörden dringend ändern. Und die dritten, das sind vor allem die Grünen und die Linken, äußern den Verdacht, dass Amri von einigen Sicherheitsbehörden so lange nicht behelligt wurde, weil diese hofften, über ihn noch mehr Informationen über die islamistische Szene zu erhalten.

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