Eurovision Song Contest in Baku:Trällern für die Freiheit

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Vor dem Eurovision Song Contest spricht Baku viel von Toleranz. Zu sehen ist sie nicht: "Freiheit" rufende Bürger werden festgenommen, Fragen nach dem Treffen einer Sängerin mit Oppositionellen unterbunden. Das aserbaidschanische Volk hat den Weg der europäischen Integration gewählt, heißt es im Präsidentenamt. Offenbar kann die Führung mit dem Wunsch der Bevölkerung nach Offenheit aber nicht Schritt halten.

Frank Nienhuysen

Man kann bei "Ali und Nino" nachblättern, was Aserbaidschan so ausmacht: Nationalstolz, Heldentum, der Kampf um Unabhängigkeit, auch die innere Zerrissenheit zwischen Ost und West. Dieser fast 80 Jahre alte Liebesroman aus Baku über den jungen Ali und eine europäisch geprägte Prinzessin aus Georgien gilt in Aserbaidschan als wichtiger Schlüssel zur Identität. In dem Werk geht es um die Symbolik alter Tage - ob man etwa Reis mit Messer und Gabel isst. Heute klärt sich das europäische Lebensgefühl der meisten Aserbaidschaner über belgische Schokolade, französische Parfums, deutsche Autos und schwedische Musik.

Verzweifelter Protest: In Aserbaidschans Hauptstadt Baku reckt ein Demonstrant der Polizei die geballte Faust entgegen, nachdem er kurz zuvor vorübergehend festgenommen worden war. (Foto: dapd)

Die autoritäre Regierung und ihre schärfsten Kritiker sind wenigstens in einem Punkt derselben Ansicht. Nämlich in dem Bekenntnis, dass sich das Land Europa annähern will, nicht Iran, nicht Russland, nicht Kasachstan. Deutsche Techniker haben die bombastische Crystal Hall als Herberge für den Eurovision Song Contest gebaut, in Londoner Taxen werden die Gäste zu den Karawanserei-Restaurants der Altstadt kutschiert, und die Musikparty dieser Tage ist sicher sehr europäisch.

Das Volk hat den Weg der europäischen Integration gewählt, heißt es im aserbaidschanischen Präsidentenamt eindeutig. Aber es sieht so aus, als könne die Führung mit dem Wunsch der Bevölkerung nach Offenheit derzeit nicht Schritt halten.

Nicht einmal am Tag des Halbfinals im Sängerwettbewerb hatten die Behörden Skrupel, "Freiheit" rufende Bürger festzunehmen. Und als ein Journalist die schwedische Sängerin Loreen nach einem Treffen mit Oppositionellen fragen wollte, wurde das Gespräch einfach unterbunden. Baku spricht von Toleranz - zu sehen ist sie nicht. Das Treffen einer Sängerin mit Kritikern der Regierung wird zum Politikum, und wieder zeigt sich: Autoritäre Regime quälen sich mit der Vorstellung, Freiheiten zuzulassen. Sie wissen, sie werden sie nicht aushalten, geschweige denn überleben.

Nun hat sich das Land Europa zugewandt und verhandelt gar mit der EU über ein Assoziationsabkommen. Der Sängerwettbewerb ist Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Europa und westlichem Lebensstil. Aber der Kern dieser westlichen Identität - Freiheit und echte Demokratie, Redefreiheit und Kritikfähigkeit - darf nicht keimen. Diesen Widerspruch kann das Regime auf Dauer nicht aushalten.

Natürlich schleppt das Land Altlasten aus den Jahrzehnten der Sowjetepoche mit sich herum. Aserbaidschan liegt an der Nahtstelle der Kontinente und der Mentalitäten, die Zerrissenheit ist spürbar. Der Gesangswettbewerb ist ungewollt zum Symbol dieses Zwiespaltes geworden. Die Leiterin der nach dem Schlüsselroman benannten Buchhandelskette "Ali und Nino" sagte: "Man kann nicht halbschwanger sein, aber halbeuropäisch." Recht hat sie damit nicht. Ein europäischer Sängerstreit macht noch keine Europäer. Und eine Glitzerhalle ersetzt keine Freiheit.

© SZ vom 26.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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