Europawahl:"Win-win-Operation"

Brexit sei Dank: Bald könnte ein lang gehegter föderalistischer Traum Wirklichkeit werden: europaweite Wahllisten.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Wenn Großbritannien im März 2019 die EU verlässt, werden alle 73 britischen Abgeordneten ihren Sitz im Europäischen Parlament verlieren. Was tun damit? Die Sitze streichen und das Parlament entsprechend verkleinern, sagt der frühere AfD- und heutige Abgeordnete der Liberal-Konservativen Reformer Hans-Olaf Henkel - das sei doch "eine völlig logische Vorgehensweise".

Eine wachsende Zahl überzeugter Europäer hat anderes im Sinn. Sie sehen im Brexit die Chance, endlich einen alten Traum zu verwirklichen: trans- oder übernationale Listen für die Europawahl. Wahllisten also, auf denen nicht nationale, sondern europäische Parteien firmieren.

Bei der Europawahl hätten Bürger zwei Stimmen - für eine nationale und eine internationale Liste

Das mag sich technisch unbedeutend anhören, doch es könnte das Zusammenwachsen des Kontinents befördern, weil es die europäische Politik sichtbarer machen würde. Denn der Begriff "Europawahl" führt eigentlich in die Irre. Tatsächlich besteht diese Wahl aus 28 nationalen Einzelwahlen, die nicht einmal am selben Tag stattfinden müssen. Um die Sitze, die jedem Mitgliedstaat zugeteilt sind, bewerben sich nur nationale Parteien, die auch die Kandidatenlisten aufstellen. Im Wahlkampf geht es mehr um nationale Themen als um das, worüber später im Europäischen Parlament verhandelt wird. Und am Wahlabend starren alle auf das nationale Ergebnis. Kaum einer weiß, welche Parteien und Fraktionen dann im Parlament an die Arbeit gehen, und dass sie nicht CDU, SPD oder Linke heißen, sondern Europäische Volkspartei (EVP), Progressive Allianz der Sozialdemokraten (S&D) oder Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne (GUE/NGL).

Seit Jahren kursiert daher die Idee, einen kleineren Teil der Mandate in einen zusätzlichen, gesamteuropäischen Wahlkreis zu verlagern. Bei der Europawahl hätten die Bürger dann zwei Stimmen, analog zur Bundestagswahl. Mit der ersten könnten sie wie gehabt die Liste nationaler Parteien wählen, mit der zweiten eine der transnationalen Listen, die von den europäischen Parteien bestückt würden. Deren Namen stünden auf Stimmzetteln und Plakaten, was Wahlkampf und Themensetzung europäisieren und beleben würde.

"Die Zeit ist reif, europäische Politik zu machen und europäische Demokratie zu wagen", sagt der SPD-Europaabgeordnete Jo Leinen. Ein Satz, den Emmanuel Macron unterschreiben würde. Frankreichs europhiler Präsident stützt die Idee aus vollem Herzen. In der vergangenen Woche schwärmte seine Regierung in einem Brief an das Parlament von einer "einzigartigen Gelegenheit". Eine solche Reform brächte das Europawahlsystem "nicht fundamental durcheinander", trage aber dazu bei, "Bürger und Parteien an stärker europäisch ausgerichtete Wahlen zu gewöhnen". Sie würde "eine Botschaft der Einheit und des Vertrauens in die Entwicklung des europäischen Projekts" senden. Geht es nach Paris, sollten die restlichen Sitze dafür verwendet werden, einige Ungerechtigkeiten auszugleichen, die über die Jahre durch demografische Verschiebungen zu Ungunsten größerer Staaten entstanden sind. Frankreich und Spanien erhielten dadurch vier zusätzliche Sitze, Italien drei. Deutschland ginge leer aus, weil es die Höchstzahl von 96 Abgeordneten schon hat.

Macrons Vorstoß wird in Brüssel auch als freundliche Geste an Italien gesehen, mit dem sich der Franzose in jüngster Zeit mehrmals in die Haare geriet. Die Regierung in Rom hatte schon im Frühjahr in einem "Non-Paper" für die Reform geworben. Bisher sei nichts vorangegangen, weil kein Staat Sitze abgeben wollte, heißt es darin. Der Brexit mache die Sache aber nun zur "überzeugenden, kostenlosen Win-win-Operation".

In Berlin fehlt die Leidenschaft für die Idee. Die Europäische Volkspartei ist ebenfalls dagegen

Die Verträge müssten für die Reform des Stimmrechts nicht geändert werden, nötig wäre ein einstimmiger Beschluss der EU-Staaten. Das ist schwierig genug. An Bord sind unter anderem Belgien und Griechenland, in Berlin fehlt die Begeisterung dem Vernehmen nach jedoch. Zumal manche EU-Abgeordnete noch weiter gehen und an die Spitze der transnationalen Listen den jeweiligen "Spitzenkandidaten" setzen wollen, der für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission antritt. Dem Wunsch des Europäischen Parlaments, die 2014 erstmals umgesetzte Spitzenkandidaten-Idee dauerhaft im EU-Recht zu verankern, steht nicht nur die deutsche Regierung skeptisch gegenüber.

Im Verfassungsausschuss des EU-Parlaments wird der Reformplan an diesem Montag erstmals zur Sprache kommen. Vor allem Sozialdemokraten und Grüne wollen die transnationalen Listen, während die Linke nur von einem "interessanten Aspekt der weiteren Debatte" spricht. Die EVP ist dagegen. Wenn Abgeordnete keine nationalen Wahlkreise mehr verträten, vergrößere das die Distanz zwischen Bürgern und Politiker, warnt Elmar Brok (CDU). Außerdem entstehe ein "Zwei-Klassen-System" von Abgeordneten. Im Bundestag hat sich daran noch niemand gestört.

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