Europawahl im Juni:Die ungeliebten Kollegen aus Straßburg

EU-Abgeordnete haben mehr Macht als die meisten glauben, doch selbst die Parteien interessieren sich kaum für sie.

C. Bolesch und C. Gammelin

Fünf Wochen noch bis zur Europawahl und das EU-Parlament brummt vor Energie. Fern der Heimat bringen die Parlamentarier in Straßburg stapelweise neue Gesetze auf den Weg. Kurz vor Torschluss verabschieden sie neue Regeln zur Finanz-und zur Energiekrise. Sie stimmen über neue Mobilfunktarife ab und über die grenzüberschreitende Behandlung von Patienten.

Europawahl im Juni: Eine Abstimmung im Europaparlament in Strasbourg: Selbst Parteifreunde in der Heimat wissen wenig über die Arbeit der Parlamentarier.

Eine Abstimmung im Europaparlament in Strasbourg: Selbst Parteifreunde in der Heimat wissen wenig über die Arbeit der Parlamentarier.

(Foto: Foto: dpa)

Sie fassen Beschlüsse über das Urheberrecht, den Umgang mit illegal geschlagenem Holz und sie legen fest, dass auch Bus-und Schiffsreisende bei Verspätungen entschädigt werden. Sie debattieren über Einwanderung und Asyl, über ökologische Reifen und über Hilfen für den Westbalkan.

Dieser politische Überdruck ist schon wenige Kilometer entfernt verpufft. In den heimatlichen Wahlkreisen, wo Europas Volksvertreter bald intensiv um Stimmen werben, wirkt das hektische Treiben von Straßburg wie eine Fata Morgana. Zu Hause erwartet die Abgeordneten bestenfalls hohe Unkenntnis ihrer Arbeit, schlimmstenfalls Ablehnung und Gleichgültigkeit. Zum Beispiel auf der idyllischen Halbinsel Hermannswerder bei Potsdam zum Auftakt des Europawahlkampfs der Brandenburger SPD.

Kandidat ohne Redezeit

Alles war perfekt vorbereitet: Licht flutete den hellen Saal, in dem die 400 geladenen Gäste auf die Wahlbotschaften eingestimmt werden sollten. Prominente Politiker hatten sich angesagt, darunter SPD-Chef Franz Müntefering und Ministerpräsident Matthias Platzeck. Die Sonne schien, das Schilf am Ufer des nahegelegenen Sees rauschte im Wind, Paddler verharrten am Steg, wo die Teilnehmer noch schnell eine letzte Zigarette rauchten. Einzig das Programm stimmte nicht: Der Kandidat, den Brandenburg im Europäischen Parlament vertreten soll, war im Flyer nicht aufgeführt - und als Redner nicht vorgesehen.

"Ein Versehen", versucht einer der Organisatoren den Fehler klein zu reden. Der Kandidat Norbert Glante werde ins Programm geschoben und noch vor SPD-Chef Müntefering sprechen. Nach zwei Landespolitikern, die Europa mit keinem Wort erwähnen, tritt Glante ans Mikrophon, er bedankt sich artig für "die Chance eines Grußworts", kurze Auftritte sei er als Europäer "ja gewohnt".

Er redet zwei Minuten über die neuen Finanzmarktgesetze, die das Parlament gerade in Straßburg verabschiedet hat. Er redet über Mindestlohn und Entsendegesetz und ruft zum Schluss: "Gehen Sie wählen und machen Sie Ihr Kreuz bei der Sozialdemokratie." Kurzer Applaus, dann spricht Platzeck.

Krise verdrängt Europa

Der Ministerpräsident bleibt verbal im Land. Er berichtet über sein Treffen mit den Betriebsräten in Brandenburg, mit denen er um Auswege aus der Wirtschaftskrise ringt. Europa hat keinen Platz in seiner Rede. Genauso wenig wie in der des DGB-Vorsitzenden Michael Sommer.

"In normalen Zeiten würden wir jetzt über die Europawahl reden. Aber die Zeit ist eine andere. Die Krise beherrscht alles", sagt er. Sommer ignoriert Europa und den SPD-Kandidaten des Europäischen Parlamentes gleichermaßen. Glante lächelt dazu, er wirkt wie ein Fremdkörper inmitten der eigenen Partei und der Gewerkschaftsvertreter.

Falsche Fürsorglichkeit in der Heimat

Franz Müntefering ist es, der den Wahlkampfauftakt gerade noch rettet. Seit 64 Jahren sei Frieden in Europa, das habe es noch nie gegeben, ruft er. "Wir sind der größte Feldversuch der Welt und müssen gerade jetzt in der Krise zusammen halten". Dann kommen Würstchen und Getränke. Müntefering und Platzeck verziehen sich plaudernd auf den Steg. Der EU-Parlamentarier Norbert Glante geht bald nach Hause.

Zu viel Volk

Die Europaabgeordnete Dagmar Roth-Behrendt meint jedoch, ihre Partei nehme Europa viel ernster als früher. Früher hätten alle Parteien ihre EU-Kandidaten nur als "Spardosen" benutzt. Gerne hätten sie die Erstattungen für die Wahlkampfkosten eingestrichen, aber das Geld größtenteils für andere Zwecke als für Europa ausgegeben. Das sei inzwischen anders.

Doch ein Hauptproblem bleibt: Es wird immer zu viel Volk und zu wenig EU-Volksvertreter geben. In Berlin etwa kann die SPD zur Bundestagswahl gleich neun Kandidaten ins Rennen schicken. Im EU-Parlament stellt Deutschland 99 Abgeordnete, auf der SPD-Wahlliste ist Dagmar Roth-Behrendt die einzige Kandidatin aus Berlin. An wie vielen von 50 Infoständen ihrer Partei kann sie an einem Wochenende sprechen? "Es ist so schwer, sichtbar zu sein", seufzt sie.

Doch nur dort, wo ein Europaabgeordneter auftritt, findet Europa auch statt. Denn die anderen Parteikollegen trauen sich nicht an das vermeintlich schwierige Thema heran oder sie packen es falsch an. Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok sagt, er müsse sich auch gegen "falsche Fürsorglichkeit" wehren.

Etwa, wenn Parteifreunde "mehr Rechte" für das Europaparlament einfordern, und Brok sich wundert: "Die wissen immer noch nicht, wie viel Macht wir haben".

Je mehr Einfluss das Europaparlament in den vergangenen 30 Jahren bekommen hat, umso weniger Menschen sind zur Wahl gegangen. Brok, Behrendt, Glante und Co. haben nur noch fünf Wochen Zeit, um diesen Trend umzukehren.

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