Europawahl:Europapolitik à la française

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Die Bundesregierung verkennt, wie wichtig einheitliche europäische Strategien in der Krise sind. Sie betrachtet die EU nur als Mittel zum Zweck - um eigene Interessen durchzusetzen.

Joschka Fischer

Was ist nur mit Deutschland los? Diese Frage wird gegenwärtig innerhalb Europas und auch jenseits des Atlantiks immer öfter gestellt. Nur in Berlin scheint man diese Frage überhaupt nicht zu verstehen.

Joschka Fischer (61, Bündnis 90 / Grüne) war Vizekanzler und Bundesaußenminister von 1998 bis 2005. Er schreibt exklusiv für Project Syndicate und dieSüddeutsche Zeitung. (Foto: Foto: AP)

Die Frage nach der Rolle Deutschlands hat gewiss sehr viel mit der Wirtschafts- und Finanzkrise und auch mit der Schwäche der Europäischen Union und ihrer Institutionen zu tun. Seitdem die europäische Verfassung und auch der Reformvertrag von Lissabon in Volksabstimmungen (zumindest vorläufig) gescheitert sind, fliegt die EU auf dem Autopiloten der Bürokratie. 27 Mitglieder, aber keine Reform der Institutionen und Verfahren: Das hat zu qualvoller Ineffizienz geführt.

Krisen sind immer auch ein Augenblick der Wahrheit, denn dann werden die Stärken und Schwächen aller Akteure schonungslos offengelegt. Und so sucht Europa heute Führung eben nicht mehr bei einer schwachen EU-Kommission oder bei anderen europäischen Institutionen, sondern in den Hauptstädten der großen Mitgliedstaaten. Wie immer, wenn es um Fragen der Wirtschaft und Finanzen geht, fällt dabei der Blick vor allem auf Deutschland, der mit Abstand stärksten Volkswirtschaft der EU. Und was man dabei sieht, irritiert. Denn Deutschland verweigert ganz offensichtlich die Führung.

Zwar wird auch Deutschland von der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise hart getroffen, sehr hart sogar, aber die Wirtschaft ist nach den Herausforderungen der Einheit und den notwendigen Reformen des Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme stärker denn je.

Was bei unseren Nachbarn und Partnern erstaunt und zunehmend Misstrauen wachsen lässt, ist, dass seit dem Beginn der globalen Krise im vergangenen September die Bundesregierung fast ausschließlich auf nationales Krisenmanagement setzt und europäische Lösungsansätze zurückweist. Hinzu kommen das vernehmliche Knirschen in den deutsch-französischen Beziehungen, die Blockade eines gemeinsamen Gasmarktes in der EU, die enge strategische Kooperation mit Putins Russland, und so weiter.

Dabei geht in Berlin nicht nur die Angst um, dass jede europäische Lösung für Deutschland sehr viel teurer und wesentlich länger dauern würde als eine nationale. In dieser neuen Form von deutscher Europa-Skepsis kommt auch ein grundsätzlicher Einstellungswandel der übergroßen Mehrheit der deutschen politischen und wirtschaftlichen Eliten gegenüber Europa zum Ausdruck.

Grundsätzlicher Einstellungswandel

Mit der Antwort auf eine einzige Frage lässt sich diese Veränderung in der deutschen Europapolitik zeigen: Wäre heute noch ein Abschied von der D-Mark und eine Einführung des Euro als Gemeinschaftswährung möglich? Die Antwort ist ein klares Nein! Ob Merkel oder Steinmeier, diese Antwort gäbe es heute quer durch das demokratische Spektrum von rechts bis links, und es ist dabei völlig egal, welche Parteien oder Personen die Regierung bilden.

Mit dem Generationenwechsel nach dem Ende von Rot-Grün hat sich in der deutschen Politik ganz offensichtlich und schleichend ein grundsätzlicher Einstellungswandel vollzogen. Europa wird heute in Berlin nicht mehr als das zentrale Projekt der deutschen Politik begriffen, in das man einen wesentlichen Teil seines politischen Kapitals und damit auch seiner Zukunft zu investieren bereit ist. Vielmehr herrscht zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer in dem das wiedervereinigten Deutschland die Einstellung vor, dass es auch allein handeln könne. Allerdings ist dies ein großer Irrtum.

Das Verhältnis zu Europa wird heute in nahezu allen demokratischen Parteien als ein funktionales gesehen. Europa bleibt ohne jeden Zweifel zur Durchsetzung der gemeinsamen und auch nationalen Interessen wichtig. Aber es ist kein Zukunftsprojekt mehr. Der deutsche Blick auf die EU gleicht dadurch immer mehr dem französischen und britischen - das heißt, die EU wird zunehmend nur noch als Rahmen und als Bedingung für die Durchsetzung der eigenen Interessen gesehen, nicht aber mehr als eigenständiger Zweck der deutschen Europapolitik.

Die Ursachen für diesen tiefgreifenden Wandel liegen auf der Hand: die Wiedervereinigung und der historische Abschluss der bis dahin offenen "deutschen Frage", das Scheitern der EU-Verfassung und dadurch der Verlust einer europäischen Vision, die institutionelle Schwäche einer auf 27 Mitgliedstaaten angewachsenen EU und die zunehmende Ineffizienz und Langsamkeit der EU-Institutionen.

Renationalisiert sich Deutschland also? Alle Akteure in Berlin würden diesen Vorwurf mit großer Empörung zurückweisen. Und in der Tat gibt es keinerlei Strategie oder gar einen Masterplan namens Renationalisierung. Die grundsätzliche Veränderung der deutschen Europapolitik geschieht einfach, ohne jede Strategie und ohne jeden Plan, sie ist das Ergebnis eines fast naturwüchsig zu nennenden Prozesses. In der aktuellen Krise zum Beispiel kommt sie in Gestalt von Führungsverweigerung daher. Das macht die Sache allerdings keineswegs besser.

Strategische Illusion

Es ist allerdings lediglich eine strategische Illusion der großen EU-Mitgliedstaaten zu meinen, dass sie auch ohne dieses schwerfällige Europa ihren Status würden verteidigen können. Kann sich Deutschland ein Scheitern der Osterweiterung erlauben? Eine existenzbedrohende Krise des Euro? Eine Gefährdung des gemeinsamen Marktes durch einen wieder erstarkenden Protektionismus? Ein Vordringen Russlands in die östliche Nachbarschaft der EU? Eine eigenständige nationale Politik im nahöstlichen Krisengürtel und in Afrika? Oder eine wirksame Rolle bei der Lösung globaler Fragen von Klimaschutz bis neue Finanzordnung?

All diese Fragen und viele mehr sind mit einem schlichten Nein zu beantworten. Nur eine starke, wesentlich mehr integrierte EU wird all dies vermögen. Diese Europäische Union wird aber nur dann eine Zukunft haben, wenn die Regierungen ihrer Mitgliedsländer und ihre Völker bereit sind, in diese gemeinsame Zukunft wesentliche Teile ihres politischen Erfolgs und ihres nationalen Interesses zu investieren. Und dies gilt unverändert ganz besonders für Deutschland, in der Mitte des Kontinents gelegen, mit der größten Bevölkerung und Wirtschaft der Union und einer schwierigen Geschichte.

© SZ vom 28.05.2009/job - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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