Europawahl 2009:"Es ist ein Teufelskreis"

Der Parteienforscher Oskar Niedermayer erklärt das Dilemma der niedrigen Wahlbeteiligung, die Lage der SPD - und ob Europa am Wochenende wirklich nach rechts gerückt ist.

Irene Helmes

Der Politologe Oskar Niedermayer leitet das Otto-Stammer-Zentrum der Freien Universität Berlin und lehrt am dortigen Otto-Suhr-Institut. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die europäische Parteienlandschaft und das politische System Deutschlands.

Die Grafik zur Europawahl Europawahl

sueddeutsche.de: Triumph für die Konservativen, Debakel für die Sozialdemokraten, Erfolge für rechtsextreme Protestparteien - was sagt dieser Wahlausgang über Europa?

Oskar Niedermayer: Bei der Kommentierung der Ergebnisse geht einiges durcheinander, weil diese Wahl einen Doppelcharakter hat. Einerseits wird eine europäische Institution gewählt, andererseits sind die Europawahlen immer auch nationale Nebenwahlen. Offenbar sind im Vergleich zu den nationalen Parlamentswahlen die nationalen Regierungen abgestraft worden. Von den 18 Staaten, die mir im Moment einfallen, haben in 14 die Parteien des Regierungschefs gegenüber der letzten nationalen Wahl verloren.

sueddeutsche.de: Welche Rolle spielt die geringe Wahlbeteiligung im Vergleich zu nationalen Wahlen?

Niedermayer: Die Ergebnisse verschieben sich insofern, weil nur die Interessierteren wählen gehen. Die Mobilisierung gelingt den kleineren und extremeren Parteien dabei besser, weil deren Wähler oft stärker ideologisch an ihre Partei gebunden sind. Bei der grünen Parteifamilie haben sie außerdem ein insgesamt stärkeres Interesse an Europa.

sueddeutsche.de: Kann man überhaupt von europäischen Trends sprechen?

Niedermayer: Man muss sehr vorsichtig sein. Überall spielen nationale Besonderheiten eine große Rolle. Selbst der allgemeine Trend zu den Konservativen ist nicht eindeutig: In einigen Ländern sind die Konservativen schlicht abgestraft worden und bei uns schickt die Union weniger Abgeordnete ins Parlament als letztes Mal. Es heißt, die kleinen, extremen Parteien haben zugelegt - aber in Bezug auf was? Die FPÖ und die BZÖ etwa haben in Österreich im Vergleich zu den letzten Wahlen im Land verloren. Trotzdem schickt die FPÖ einen Abgeordneten mehr nach Straßburg.

sueddeutsche.de: Inwieweit kann man Parteien wie die FPÖ, die niederländische Freiheitspartei und die British National Party miteinander vergleichen?

Niedermayer: Auch das angebliche Zulegen der Rechtsextremen ist sehr differenziert zu beurteilen. Erstens gibt es in vielen Ländern gar keine. Zweitens haben sie zwar in manchen Ländern gegenüber der letzten Europawahl zugelegt, sind aber im Vergleich zur letzten nationalen Parlamentswahl eher auf dem absteigenden Ast. Drittens fallen in diese Parteifamilie sehr unterschiedliche Parteien. Wir unterscheiden zwischen halbwegs systemkonformen Rechtsextremen und sehr starken Anti-System-Parteien, die wirklich neofaschistisch oder rassistisch sind. FPÖ und BZÖ gehen in die erste Kategorie: rechtsextrem, aber noch gemäßigt im Vergleich zu Hardlinern wie Geert Wilders Freiheitspartei, Vlaams Belang in Belgien, Front National in Frankreich.

sueddeutsche.de: Welche Rolle werden die Radikalen im neuen Parlament spielen?

Niedermayer: Ich bin skeptisch, ob es einer Rumpfgruppe von rechten, systemfeindlichen Hardlinern gelingen wird, eine Fraktion zu bilden. Die Rechtsextremen haben das in der letzten Legislaturperiode versucht. Doch damals hat es nur ein paar Monate gehalten. Bis zur Wahl waren sie teils bei den Fraktionslosen, zum Teil bei der EU-kritischen Fraktion Independence/Democracy. Manche wechseln nun: Italiens Alleanza Nazionale etwa ist inzwischen zusammen mit Berlusconis Partei zu Popolo della Libertà (PDL) zusammengegangen - und die PDL wird zusammen zur Europäischen Volkspartei gehen, auch wenn das manchen dort nicht gefallen wird. Die Klammer, die die Radikalen verbindet, ist eindeutig der Ethnozentrismus, der Nationalismus, die EU-Gegnerschaft. Aber zwischen den Parteien gibt es auch Animositäten, sie können nicht auf allen Gebieten miteinander.

Die Zeit wird knapp

sueddeutsche.de: Welche Politik ist vom neuen Parlament zu erwarten?

Niedermayer: Zunächst bleibt abzuwarten, wie sich im Mitte-rechts-Lager tatsächlich die Gewichte verteilen. Wahrscheinlich wird sich eine konservative Fraktion bilden neben den Christdemokraten, mit den britischen Conservatives, der tschechischen ODS, der polnischen PiS und anderen. Dann hätten wir schon eine andere Situation als vor der Wahl. Insgesamt wird das Übergewicht von Mitte-rechts dem bisherigen konservativen Kommissionspräsidenten José-Manuel Barroso große Chancen auf eine Wiederwahl geben. Das wollten die Mitte-links-Parteien unbedingt verhindern.

Die weitere Politik des Parlaments hängt sehr davon ab, wie sich die Links-rechts-Spaltung weiter entwickelt. Bisher hatten wir in 70 Prozent der Entscheidungen eine große Koalition aus Christdemokraten und Sozialisten. Die drittstärkste Kraft im Parlament, die Liberalen, haben sich aber in letzter Zeit verstärkt in Richtung der Christdemokraten und Konservativen orientiert. Es kann sein, dass es künftig stärker zu dieser Allianz kommt - die dann die Mehrheit hätte. Sie könnte die Politik dann prägen in Richtung einer sozialen Marktwirtschaft mit neoliberalem Einschlag, im Gegensatz zu einem sozialen europäischen Raum, wie ihn die Sozialisten wollen.

sueddeutsche.de: Europas Sozialdemokraten verlieren mitten in der Wirtschaftskrise etwa jeden vierten Sitz im Parlament. Haben sie so viel falsch oder ihre Konkurrenten so viel richtig gemacht?

Niedermayer: In einigen Ländern scheinen die Bürger in der dramatischen Lage eher auf Bewährtes zu setzen und die Konservativen für kompetenter zu halten. Zum Beispiel in Deutschland: Hier trauen die Menschen in Umfragen der Union deutlich eher als der SPD zu, die Wirtschaftskrise zu bewältigen. Insgesamt kommt es sehr darauf an, wer gerade an der Regierung ist. Einige sozialdemokratische Regierungen sind am Wochenende deutlich abgestraft worden, andere nicht. Es gibt konservative Regierungen, die hinzugewonnen haben, andere haben verloren. Es ist von Land zu Land unterschiedlich. Es sind schließlich schon zwei Regierungen gestürzt worden wegen der Wirtschaftskrise: In Tschechien und in Lettland - beide Male keine Sozialdemokraten.

sueddeutsche.de: In welchen Ländern wird die Europawahl ein Nachspiel haben?

Niedermayer: Sofort fällt einem natürlich Großbritannien ein, wo sich Premier Gordon Brown noch stärker mit Rücktrittsforderungen auseinandersetzen muss als zuvor. Aber selbst hier muss man sagen: Im Vergleich zur letzten großen Wahl haben beide großen Parteien verloren. Das liegt am nationalen Spesenskandal, der beide trifft - aber Labour noch stärker schadet, weil Browns Partei in der Krisenbewältigung noch schlechter war. Die kleinen Parteien - darunter die europaskeptische UKIP - haben dagegen profitiert. All das hat überhaupt nichts mit Europapolitik zu tun.

sueddeutsche.de: In Deutschland muss die SPD ein Debakel hinnehmen. In 111 Tagen ist Bundestagswahl - wie kann sich die Partei bis dahin noch retten?

Niedermayer: Die SPD kann natürlich darauf hinweisen, dass sie ein Mobilisierungsproblem hatte. Das haben große Parteien aber generell bei der Europawahl - die CDU hat es besser gelöst. Die SPD muss sich fragen, ob es richtig war, mit der Union in der Regierung zu sitzen, aber zugleich eine starke Negativkampagne gegen sie zu fahren. Außerdem hat ihr die Haltung zu Staatshilfen offenbar nicht geholfen. Die Mehrheit der Menschen ist anscheinend der Auffassung, dass die Sozialdemokraten in diesem Bereich zu großzügig mit Steuergeldern umgehen. Die SPD erlebt bei einem Teil der Wähler eine Glaubwürdigkeitskrise in Bezug darauf, ob sie noch die Partei ist, die die soziale Gerechtigkeit hochhält. Daraus resultiert ihr strukturelles Problem - Stichwort Linkspartei. Bisher hat nichts gefruchtet, was die SPD getan hat, um auf diesem Tief herauszukommen - nun wird die Zeit knapp.

sueddeutsche.de: Bei der Europawahl 2004 rächte sich für die SPD massiv die Agenda-Politik. Welche Themen gaben diesmal in Deutschland den Ausschlag?

Niedermayer: Europäische Themen waren es mit Sicherheit nicht. Wenn überhaupt, haben am ehesten noch die Grünen ihren Wahlkampf darauf ausgerichtet. Ansonsten war der Wahlkampf relativ inhaltsleer. Es gab kein echtes Reizthema - weder nationaler noch europäischer Art. Das Einzige, was die letzte Phase geprägt hat, war Opel und Arcandor. Die allgemeine Stimmungslage in Bezug auf die deutsche Politik hat eine wesentliche Rolle gespielt.

sueddeutsche.de: Was bedeutet es für die Bundestagswahl, dass Union und FDP am 7. Juni gemeinsam nahe an die 50-Prozent-Marke gekommen sind?

Niedermayer: Das ist ein Rückenwind, insbesondere natürlich für die Anhänger und für den Wahlkampf. Und die Wahlergebnisse vom Sonntag sind nicht weit weg von den Umfragen zur Bundestagswahl. Aber etwas darf man nicht vergessen: Der 7. Juni war ein Stimmungstest für die Interessierten. Es ist eben nur etwa die Hälfte derer, die zur Bundestagswahl geht, zur Wahl gegangen. Dieser Teil war nicht repräsentativ - deshalb heißt das Ergebnis noch nicht viel.

sueddeutsche.de: Noch nie sind so wenige EU-Bürger zur Wahl gegangen wie 2009 - warum?

Niedermayer: Es entsteht insgesamt ein Teufelskreis aus gegenseitigen Erwartungen und Orientierungen, der zu einer geringen Wahlbeteiligung führt: Für die Bürger sind Europa und die Entscheidungen des Parlaments sehr weit weg. Außerdem wird hier keine Regierung gewählt - deshalb ist vielen nicht ersichtlich, was ihre Stimmabgabe überhaupt bewirkt. Und auch die Parteien selbst und die Medien messen der Europawahl weniger Bedeutung zu.

sueddeutsche.de: Martin Schulz, der Fraktionsvorsitzende der europäischen Sozialdemokraten, sprach am Wahlabend bereits von einer "Legitimationskrise" - zu Recht?

Niedermayer: Natürlich ist es unschön für das Europaparlament. Aber eine Grenze festzulegen, ab wann ein Parlament legitimiert ist und ab wann nicht mehr - das ist eigentlich unmöglich.

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