Europapolitik:Merkels von Demoskopie geleiteter Opportunismus

An Gründen für eine europäische Gemeinschaft fehlt es nicht, doch die politischen Eliten setzen unverfroren die Entmündigung der Bürger fort. Auch die deutsche Politik folgt schamlos dem opportunistischen Drehbuch der Machtpragmatik. Merkels Atommoratorium ist das auffälligste Beispiel. Im Fall Guttenberg hat sie sogar das rechtsstaatliche Amtsverständnis kassiert.

Jürgen Habermas

Die letzte Märzwoche war von zwei politischen Großereignissen beherrscht. Der Machtverlust der Regierungsparteien im Stammland der CDU besiegelte den zügigen Ausstieg aus der Atomenergie; zwei Tage zuvor verkoppelte der Europäische Rat seine Beschlüsse zur Stabilisierung der gemeinsamen Währung mit einer Initiative zur überfälligen Koordinierung der Wirtschaftspolitiken in den beteiligten Mitgliedsstaaten.

BELGIUM-EU-SUMMIT

Angela Merkel auf dem EU-Gipfel in Brüssel im März 2011.

(Foto: AFP)

Allerdings wird das Gewicht dieses integrationspolitischen Schubs öffentlich kaum wahrgenommen, denn in anderen Hinsichten bilden die beiden Ereignisse einen bemerkenswerten Kontrast.

In Baden-Württemberg kippt eine soziale Bewegung nach vierzig Jahren zivilgesellschaftlichen Protestes eine beinharte Mentalität, auf die sich die industriefreundlichen Eliten bislang verlassen konnten. In Brüssel wird nach einem Jahr Spekulation gegen den Euro hinter verschlossenen Türen ein Maßnahmenpaket "für wirtschaftspolitische Steuerung" verabschiedet, mit dessen Auswirkungen sich in erster Linie Juristen, Ökonomen und Politologen beschäftigen werden. Dem langfristig von unten erkämpften Mentalitätswandel dort steht hier ein von den Finanzmärkten kurzfristig erzwungener Integrationsschub in der Zusammenarbeit der nationalen Regierungen gegenüber.

Die energiepolitische Wende, die sich über Jahrzehnte im politischen Licht einer lärmend-argumentierenden Öffentlichkeit angebahnt hat, bedeutet eine Zäsur. Aber gilt das auch für den expertokratisch ausgehandelten, in den Wirtschaftsteilen der Presse versickerten, fast tonlos vollzogenen Politikwechsel zu einer intensiveren Abstimmung von Politiken, die gemäß dem Europavertrag in nationale Zuständigkeit fallen? Was ist das Problem - und kann es durch eine Verabredung unter den Regierungschefs der betroffenen Mitgliedstaaten überhaupt gelöst werden?

Der Konstruktionsfehler der Währungsunion

Die finanztechnische Frage, ob der in Brüssel vereinbarte Stabilitätsmechanismus, der den im Mai 2010 vereinbarten Rettungsfonds im Jahre 2013 ablöst, die Spekulation gegen den Euro beenden wird, lasse ich dahingestellt. Wichtiger ist die politische Frage jenes Konstruktionsfehlers der Währungsunion, über den die Finanzmarktspekulation nun allen die Augen geöffnet hat. Bei der Einführung des Euro im Jahre 1999 hatten einige noch auf die Fortsetzung des politischen Einigungsprozesses gehofft. Andere Befürworter glaubten an das ordoliberale Lehrbuch, das der Wirtschaftsverfassung mehr zutraut als der Demokratie. Sie meinten, dass die Einhaltung simpler Regeln für eine Konsolidierung der Staatshaushalte genügen müsste, um (gemessen an den Lohnstückkosten) eine Angleichung der nationalen Wirtschaftsentwicklungen herbeizuführen.

Beide Erwartungen sind dramatisch enttäuscht worden. Die schnelle Aufeinanderfolge von Finanz-, Schulden- und Eurokrise hat die falsche Konstruktion eines riesigen Wirtschafts- und Währungsraums, dem aber die Instrumente für eine gemeinsame Wirtschaftspolitik fehlen, sichtbar gemacht. Europaskeptiker wie Angela Merkel sind unter diesen systemischen Zwängen widerstrebend zu einem Schritt in Richtung Integration gedrängt worden. Nun soll der Fehler auf dem informellen Wege der "offenen Koordinierung" beseitigt werden. Diese Notlösung hat aus Sicht der Akteure den Vorzug, keine schlafenden Hunde zu wecken. Andererseits ist sie, sofern sie überhaupt funktioniert, in der Auswirkung undemokratisch und dazu angetan, in den Bevölkerungen der verschiedenen Mitgliedstaaten gegenseitig Ressentiments zu schüren.

Die Regierungschefs haben sich darauf festgelegt, jeweils im eigenen Land einen Katalog von Maßnahmen zur Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Lohnpolitik umzusetzen, die eigentlich Sache der nationalen Parlamente (bzw. der Tarifparteien) wären. In den Empfehlungen spiegelt sich ein Politikmuster, das die deutsche Handschrift trägt. Von der wirtschaftspolitischen Weisheit der verordneten Austerität, die auf eine kontraproduktive Dauerdeflation in der Peripherie hinauszulaufen droht, will ich gar nicht reden. Ich konzentriere mich auf das Verfahren: Die Regierungschefs wollen sich jedes Jahr gegenseitig über die Schulter sehen, um festzustellen, ob denn die Kollegen den Schuldenstand, das Renteneintrittsalter und die Deregulierung des Arbeitsmarktes, das Sozialleistungs- und das Gesundheitssystem, die Löhne im öffentlichen Sektor, die Lohnquote, die Körperschaftsteuer und vieles mehr an die "Vorgaben" des Europäischen Rates angepasst haben.

Dies ist die falsche Methode

Die rechtliche Unverbindlichkeit der intergouvernementalen Vorverständigung über Politiken, die in Kernkompetenzen der Mitgliedstaaten und ihrer Parlamente eingreifen, führt in ein Dilemma. Wenn die Empfehlungen zur wirtschaftspolitischen Steuerung wirkungslos bleiben, verstetigen sich die Probleme, die damit gelöst werden sollen. Wenn jedoch die Regierungen ihre Maßnahmen tatsächlich in der beabsichtigten Weise koordinieren, müssen sie sich dafür zu Hause die nötige Legitimation "beschaffen". Das muss aber ein claire-obscure der sanften Pression von oben und der unfreiwillig-freiwilligen Akkomodation von unten erzeugen. Was bedeutet denn das Recht der Kommission, die Haushalte der Mitgliedstaaten "rechtzeitig", also vor der Entscheidung der Parlamente zu prüfen, anderes als die Anmaßung, ein wirksames Präjudiz zu schaffen?

Unter diesem Grauschleier können sich die nationalen Parlamente (und gegebenenfalls die Gewerkschaften) dem Verdacht nicht entziehen, andernorts gefasste Vorentscheidungen nur noch abzunicken, das heißt konkretisierend nachzuvollziehen. Dieser Verdacht muss jede demokratische Glaubwürdigkeit zerfressen. Das Wischiwaschi einer Koordinierung, deren rechtlicher Status absichtsvoll im Ungefähren bleibt, genügt nicht für Regelungen, die ein gemeinsames Handeln der Union erfordern. Solche Beschlüsse müssen auf beiden für Unionsentscheidungen vorgesehenen Wegen legitimiert werden - nicht nur auf dem indirekten Wege über die im Rat vertretenen Regierungen, sondern auch über das europäische Parlament unmittelbar. Andernfalls wird die bekannte zentrifugale Dynamik des Fingerzeigens auf "Brüssel" nur noch beschleunigt - die falsche Methode wirkt als Spaltpilz.

Solange die europäischen Bürger allein ihre nationalen Regierungen als Handelnde auf der europäischen Bühne im Blick haben, nehmen sie die Entscheidungsprozesse als Nullsummenspiele wahr, in denen sich die eigenen Akteure gegen die anderen durchsetzen müssen.

Die nationalen Helden treten gegen "die anderen" an, die an allem schuld sind, was "uns" das Monster Brüssel auferlegt und abverlangt. Nur im Blick auf das von ihnen gewählte, nach Parteien und nicht nach Nationen zusammengesetzte Parlament in Straßburg könnten die europäischen Bürger Aufgaben der wirtschaftspolitischen Steuerung als gemeinsam zu bewältigende Aufgaben wahrnehmen.

Und was wäre die Alternative?

Eine anspruchsvollere Alternative bestünde darin, dass die Kommission diese Aufgaben auf dem demokratischen Wege des "ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens", also mit Zustimmung von Rat und Parlament ausübt. Das würde allerdings eine Kompetenzverlagerung von den Mitgliedsstaaten auf die Union verlangen, und eine derart einschneidende Vertragsänderung erscheint einstweilen als unrealistisch.

Wahrscheinlich stimmt die Erwartung, dass die europamüden Bevölkerungen unter gegebenen Umständen eine weitere Übertragung von Souveränitätsrechten selbst im Kernbereich der Union ablehnen würden. Aber diese Voraussage ist zu bequem, wenn sich die politischen Eliten damit von ihrer Verantwortung für den erbärmlichen Zustand der Union entlasten. Dass die jahrzehntelange breite Zustimmung zur europäischen Einigung sogar in der Bundesrepublik stark abgenommen hat, ist nicht selbstverständlich. Der europäische Einigungsprozess, der immer schon über die Köpfe der Bevölkerung hinweg betrieben worden ist, steckt heute in der Sackgasse, weil er nicht weitergehen kann, ohne vom bisher üblichen administrativen Modus auf eine stärkere Beteiligung der Bevölkerung umgestellt zu werden. Stattdessen stecken die politischen Eliten den Kopf in den Sand. Sie setzen ungerührt ihr Eliteprojekt und die Entmündigung der europäischen Bürger fort. Für diese Unverfrorenheit möchte ich nur drei Gründe anführen.

Die Wiederentdeckung des Nationalstaates

Die nationale Einigung hat in Deutschland einen Mentalitätswandel in Gang gesetzt, der (wie politikwissenschaftliche Untersuchungen belegen) auch das Selbstverständnis und die Orientierung der deutschen Außenpolitik erfasst und in Richtung einer stärkeren Selbstzentrierung verändert hat. Seit den neunziger Jahren wächst allmählich das Selbstbewusstsein einer militärisch gestützten "Mittelmacht", die als Spieler auf weltpolitischer Bühne agiert. Dieses Selbstverständnis verdrängt die bis dahin gehegte Kultur der Zurückhaltung einer Zivilmacht, die vor allem einen Beitrag zur Verrechtlichung des Systems der ungezügelten Staatenkonkurrenz leisten wollte. Der Wandel zeigt sich insbesondere seit dem Regierungswechsel von 2005 auch in der Europapolitik. Genschers Vorstellung von der "europäischen Berufung" eines kooperativen Deutschlands spitzt sich immer stärker auf einen unverhohlenen Führungsanspruch eines "europäischen Deutschlands in einem deutsch geprägten Europa" zu. Nicht als wäre die Einigung Europas nicht von Anfang an im deutschen Interesse gewesen. Aber das Bewusstsein eines verpflichtenden historisch-moralischen Erbes sprach für diplomatische Zurückhaltung und für die Bereitschaft, auch die Perspektiven der anderen einzunehmen, normativen Gesichtspunkten Gewicht einzuräumen und gelegentlich Konflikte durch Vorleistungen zu entschärfen.

Für Angela Merkel mag das im Umgang mit Israel noch eine Rolle spielen. Aber der Vorrang nationaler Rücksichten ist nie zuvor so blank in Erscheinung getreten wie im robusten Widerstand einer Kanzlerin, die vor ihrem Debakel vom 8. Mai 2009 die europäische Hilfe für Griechenland und den Rettungsschirm für den Euro wochenlang blockierte. Auch das jetzige Paket ist vom wirtschaftspolitischen Musterknaben mit so wenig Sensibilität geschnürt worden, dass die Nachbarländer bei geeignetem Anlass nicht länger auf "Brüssel", sondern auf das "deutsche" Politikmuster zeigen werden, das sie sich nicht überstülpen lassen wollen. Zum neudeutschen Mentalitätswandel passt übrigens das Europa-unfreundliche Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das sich gegen weitere Integrationsbestrebungen mit einer willkürlichen Festlegung unverrückbarer nationaler Zuständigkeiten zum Hüter der nationalstaatlichen Identität aufwirft. Staatsrechtler haben das Urteil unter der sarkastischen Überschrift "Das deutsche Verfassungsgericht sagt ,Ja' zu Deutschland" trefflich kommentiert.

Demoskopiegeleiteter Opportunismus

Die neue deutsche Normalität erklärt nicht die Tatsache, dass es bisher in keinem der Mitgliedsstaaten eine einzige Europawahl und kaum ein Referendum gegeben hat, in denen über etwas anderes als über nationale Themen und Tickets entschieden worden ist. Politische Parteien vermeiden natürlich die Thematisierung von unpopulären Fragen. Das ist einerseits trivial, weil es das Ziel von Parteien sein muss, Wahlen zu gewinnen. Andererseits ist es keineswegs trivial, warum seit Jahrzehnten Europawahlen von Themen und Personen beherrscht werden, die gar nicht zur Entscheidung anstehen. Der Umstand, dass sich die Bürger über die Relevanz des Geschehens im subjektiv entfernten Straßburg und Brüssel täuschen, begründet sehr wohl eine Bringschuld, der sich jedoch die politischen Parteien hartnäckig entziehen.

Freilich scheint die Politik heute allgemein in einen Aggregatzustand, der sich durch den Verzicht auf Perspektive und Gestaltungswillen auszeichnet, überzugehen. Die wachsende Komplexität der regelungsbedürftigen Materien nötigt zu kurzatmigen Reaktionen in schrumpfenden Handlungsspielräumen. Als hätten sich die Politiker den entlarvenden Blick der Systemtheorie zu eigen gemacht, folgen sie schamlos dem opportunistischen Drehbuch einer demoskopiegeleiteten Machtpragmatik, die sich aller normativen Bindungen entledigt hat. Merkels Atommoratorium ist nur das auffälligste Beispiel. Und nicht Guttenberg, sondern die Regierungschefin selbst hat (in den Worten der FAZ) "die halbe Republik und fast die ganze CDU zum Lügen gebracht", als sie den öffentlich überführten Plagiator aus Rücksicht auf dessen Beliebtheit im Amt behielt. Kühl kalkulierend hat sie für ein paar Silberlinge, die sie an den Wahlurnen dann doch nicht hat einstreichen können, das rechtsstaatliche Amtsverständnis kassiert. Ein Großer Zapfenstreich hat die Normalität dieser Praxis auch noch besiegelt.

Dem liegt ein Verständnis von Demokratie zugrunde, das die New York Times nach der Wiederwahl von George W. Bush auf die Formel von der post-truth democracy gebracht hat. In dem Maße, wie die Politik ihr gesamtes Handeln von der Konkordanz mit Stimmungslagen abhängig macht, denen sie von Wahltermin zu Wahltermin hinterherhechelt, verliert das demokratische Verfahren seinen Sinn. Eine demokratische Wahl ist nicht dazu da, ein naturwüchsiges Meinungsspektrum bloß abzubilden; vielmehr soll sie das Ergebnis eines öffentlichen Prozesses der Meinungsbildung wiedergeben. Die in der Wahlkabine abgegebenen Stimmen erhalten das institutionelle Gewicht demokratischer Mitbestimmung erst in Verbindung mit den öffentlich artikulierten Meinungen, die sich im kommunikativen Austausch von themenrelevanten Stellungnahmen, Informationen und Gründen herausgebildet haben. Aus diesem Grunde privilegiert das Grundgesetz die Parteien, die nach Artikel 21 "an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken". Auch die Europäische Union wird keinen demokratischen Charakter annehmen können, solange es die politischen Parteien ängstlich vermeiden, Alternativen zu Entscheidungen von großer Tragweite überhaupt zum Thema zu machen.

Das Unbehagen an der politisch-medialen Klasse

Die Medien sind am beklagenswerten Gestaltwandel der Politik nicht unbeteiligt. Einerseits lassen sich die Politiker vom sanften Zwang der Medien zu kurzatmigen Selbstinszenierungen verführen. Andererseits lässt sich die Programmgestaltung der Medien selbst von der Hast dieses Okkasionalismus anstecken. Die munteren Moderator(inn)en der zahlreichen Talkshows richten mit ihrem immer gleichen Personal einen Meinungsbrei an, der dem letzten Zuschauer die Hoffnung nimmt, es könne bei politischen Themen noch Gründe geben, die zählen. Manchmal zeigt der ARD-Presseclub, dass es auch anders geht.

Zwar stehen wir mit unserer Qualitätspresse, wenn ich recht sehe, im internationalen Vergleich gar nicht so schlecht da. Aber auch diese Leitmedien bleiben nicht unberührt von dem Umstand, dass die mediale mit der politischen Klasse zusammenwächst - und über diesen Ritterschlag auch noch stolz ist. Ein Beispiel dafür ist der verblüffende Applaus der anspruchsvollen "liberalen" Wochenzeitung für die Kanzlerin, als diese in der Causa Guttenberg die politische Kultur des Landes berlusconisierte. Zudem dürfte sich die kommentierende Presse, wenn sie ein Gegengewicht gegen eine perspektivenlose Politik bilden wollte, ihre Themen nicht ganz vom Takt des Tagesgeschehens vorgeben lassen. Beispielsweise behandelt sie die Bewältigung der Euro-Krise als ein hochspezialisiertes Wirtschaftsthema; dann fehlt der Kontext, wenn die politischen Redaktionen in großen Abständen geruhen, die Folgen der Krise für den Umbau der Europäischen Union im Ganzen doch einmal aufzugreifen.

Die Wiederentdeckung des deutschen Nationalstaates, der neue Modus einer kompasslos auf kurze Sicht fahrenden Politik und das Zusammenwachsen der politisch-medialen Klasse mögen Gründe dafür sein, dass der Politik für ein so großes Projekt wie die Einigung Europas die Luft ausgeht. Aber vielleicht geht der Blick nach oben, auf die politischen Eliten und die Medien, überhaupt in die falsche Richtung. Vielleicht können die einstweilen fehlenden Motivationen nur von unten, aus der Zivilgesellschaft selbst, erzeugt werden. Der Ausstieg aus der Atomenergie ist ein Beispiel dafür, dass sich die politisch-kulturellen Selbstverständlichkeiten und damit die Parameter der öffentlichen Diskussion nicht ohne die zähe Maulwurfsarbeit sozialer Bewegungen verschieben.

Woher sollen die Motive kommen?

Eine soziale Bewegung für Europa liegt nicht in der Luft. Stattdessen beobachten wir etwas anderes - eine Politikverdrossenheit, deren Ursachen unklar sind. Die geläufigen Diagnosen machen das Unbehagen an Persönlichkeitseigenschaften und Stilmerkmalen von gefeierten Ersatz- und Gegenfiguren fest. Es heißt, dass viele Bürger am Seiteneinsteiger Gauck das eckige Profil einer widerständigen Lebensgeschichte schätzen, am Kommunikator Guttenberg die Eloquenz und den Glanz der eleganten Selbstdarstellung und am Moderator Geißler das Knorrige eines sympathischen Schlitzohrs - allemal farbige Eigenschaften, die den biederen Verwaltern der politischen Routine abgehen. Aber diese antipolitische Schwärmerei für das Überparteiliche könnte auch ein Ventil für einen ganz anderen Ärger sein - für den Verdruss an einer politischen Unterforderung.

Früher ließen sich die Politiken der Bundesregierungen aus einer nachvollziehbaren Perspektive bündeln: Adenauer war auf die Bindung an den Westen fixiert, Brandt auf die Ostpolitik und die Dritte Welt; Schmidt relativierte das Schicksal des kleinen Europa aus dem Blickwinkel der Weltökonomie, und Helmut Kohl wollte die nationale in die europäische Einigung einbinden. Alle wollten noch etwas! Schröder hat schon eher reagiert als gestaltet; immerhin wollte Joschka Fischer eine Entscheidung über die finalité, wenigstens die Richtung der europäischen Einigung herbeiführen. Seit 2005 zerfließen die Konturen vollends. Man kann nicht mehr erkennen, worum es geht; ob es überhaupt noch um mehr geht als um den nächsten Wahlerfolg. Die Bürger spüren, dass ihnen eine normativ entkernte Politik etwas vorenthält. Dieses Defizit drückt sich sowohl in der Abwendung von der organisierten Politik aus wie in jener neuen Protestbereitschaft der Basis, für die Stuttgart 21 die Chiffre ist. Für die eine oder die andere politische Partei könnte es sich doch lohnen, die Ärmel hochzukrempeln, um offensiv auf den Marktplätzen für die europäische Einigung zu kämpfen.

Mit dem Verzicht auf "große" Projekte ist es nicht getan. Dem Klimawandel, den weltweiten Risiken der Kerntechnik, dem Regelungsbedarf des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus oder der Durchsetzung der Menschenrechte auf internationaler Ebene kann sich die internationale Gemeinschaft nicht entziehen. Und gegenüber der Größenordnung dieser Probleme hat die Aufgabe, die wir in Europa lösen müssen, fast schon ein übersichtliches Format.

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