Europäische Union:Suche nach dem Kardinalfehler

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Oberster Ceta-Gegner: Paul Magnette, Ministerpräsident der Wallonie. (Foto: Yves Herman/Reuters)

Sind die Wallonen Schuld am Ceta-Debakel oder nehmen sie nur ihr Recht wahr?

Von Thomas Kirchner, Straßburg

Ceta erregt. Bürger, Politiker, Journalisten und Experten debattieren viel in diesen Tagen. Eine wichtige Frage: War der entscheidende Fehler der EU-Kommission, das Handelsabkommen als "gemischtes Abkommen" anzusehen, das von allen nationalen oder regionalen Parlamenten wie jenem der Wallonie ratifiziert werden muss? Oder hätte die Behörde auf ihrer Ansicht bestehen sollen, dass es sich um ein Abkommen handelt, das ausschließlich in europäische Kompetenz ("EU only") fällt und daher keiner Zustimmung durch die Nationalstaaten bedarf?

Anders gefragt: Hätte die wallonische Blockade vermieden werden können? Die Antwort ist schwierig. Man muss politische von rechtlichen Fragen trennen. Politisch stand die Kommission Ende Juni kurz nach dem Brexit-Referendum unter starkem Druck. Präsident Jean-Claude Juncker kündigte auf dem EU-Gipfel an, auf "EU only" zu bestehen. Die meisten Mitgliedstaaten forderten "gemischt" und ließen dies die Kommission wissen. Als die Behörde merkte, dass sie nahezu allein dastand, schwenkte sie um und ermöglichte damit das Veto der Wallonen.

Wahrscheinlich war manchem Brüsseler Beamten klar, was kommen würde. Vielleicht ließ man es, mit etwas Trotz, darauf ankommen. Viele Beobachter meinten aber schon im Juni, die Kommission hätte die Sache nicht ausgerechnet in den Tagen nach dem britischen Votum auf die Spitze treiben sollen, um sich dann erhitzte Kommentare wie jenen von Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel ("unglaublich töricht") anhören zu müssen. Wie realistisch es gewesen wäre, die Entscheidung zu verschieben, lässt sich kaum sagen. Sicher hätte niemand der Kommission genügend Zeit gelassen, das eigentlich Richtige zu tun, nämlich die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zum Freihandelsabkommen mit Singapur abzuwarten. Vermutlich Anfang Januar werden die Richter über die umstrittene Frage - EU only oder gemischt? - befinden und damit einen Präzedenzfall schaffen.

Man könnte jedoch behaupten, die Frage sei müßig. Denn blockieren könnten die Wallonen selbst dann, wenn das Abkommen auf "EU only" umgemünzt würde. Der entsprechende Beschluss, heißt es in einem von der Organisation Foodwatch in Auftrag gegebenen Gutachten der Uni Köln, müsse im Rat der Europäischen Union einstimmig gefällt werden. Und weil die belgischen Regionen für Außenhandel zuständig sind, bliebe es bei der Vetomöglichkeit für die Wallonen. Stimmt das (der Sachverhalt wird von manchen auch anders beurteilt), wäre der Vorschlag hinfällig, das Abkommen zu retten, indem man alle in die (Mit-)Zuständigkeit der Nationalstaaten fallenden Teile herausoperiert. Andererseits: Entscheidet der EuGH im Falle Singapurs auf "EU only", wird Ceta kaum gemischt bleiben können.

Was nun die Wallonen betrifft, ist der Vorwurf nicht stichhaltig, sie würden "bloß blockieren". Das demokratisch gewählte Parlament und die Exekutive der Region haben das Recht in Anspruch genommen, das man ihnen gegeben hat. "Aus demokratischer Sicht" sei ihnen kein Vorwurf zu machen, schreibt der Wissenschaftler Manuel Müller im Blog "Der (europäische) Föderalist". Man dürfe ihre Politik für kurzsichtig, egoistisch oder dumm halten, könne ihnen aber nicht befehlen, am gemeinsamen Strang zu ziehen. Grundsätzlich empfiehlt Müller, dass es "bei Entscheidungen, die die EU als Ganzes betreffen, keine nationalen Vetorechte geben" sollte. Das fordern auch EU-Abgeordnete.

Im Gegenteil, kontert der Jurist Matthias Goldmann im "Verfassungsblog". Die Probleme mit Ceta resultierten nicht aus einem Zuviel, sondern aus einem Mangel an Teilhabe. Das Misstrauen gegen solche "geheim ausgehandelten" Handelsabkommen kulminiere "in einem Gefühl der Machtlosigkeit, auf dem die wallonische Regierung schwimmt". Die Lösung könne nur lauten, Mitgliedstaaten und Regionen "rechtzeitig und ernsthaft einzubinden". So solle nicht mehr die Kommission allein verhandeln, sondern eine "gemischte Delegation", inklusive Vertretern der Nationalstaaten.

© SZ vom 27.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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