Europäische Union nach dem Gipfel:Mitgehangen, mitgefangen

Der Euro sollte die Integration in Europa vorantreiben, aber dieses Projekt ist krachend gescheitert. Schon lange bewegt sich die EU mit mehr als nur zwei Geschwindigkeiten, und in Zukunft wird es womöglich noch mehr Unter-Bündnisse und Sondervereinbarungen geben. Doch das überdehnte Europa braucht koordinierte Politik.

Kurt Kister

Ein gutes Ergebnis in schlechten Zeiten. So kann man mit einem Satz zusammenfassen, was in der Nacht zum Freitag in Brüssel passiert ist. Unter der diesmal tatsächlich entschiedenen Führung der Bundeskanzlerin und des französischen Präsidenten hat sich der größere Teil der EU-Staaten dazu bekannt, demnächst etwas nachzuholen, was eigentlich vor der Einführung der Gemeinschaftswährung hätte beschlossen und danach strikt eingehalten werden sollen. Es wird wohl ein Regime von Kontroll- und Sanktionsmaßnahmen geben, das verhindern kann, dass das Schuldenproblem in der Euro-Zone weiter ausufert. Wer Floskeln liebt, der mag das hochtrabend eine "Fiskalunion" nennen.

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Eine Währung als Einigungsbeschleunigunger: Der Euro hätte die große Idee Europa voran treiben sollen, doch das ist ein frommer Wunsch geblieben. Die EU ist, heute mehr denn je, ein Staatenverbund mit höchst unterschiedlichen Interessen.

(Foto: dpa)

Vielleicht bewirkt die belle alliance zwischen Merkel und Sarkozy sogar, dass dieser x-te Gipfel einen Teil des Vertrauens schafft, das nötig ist, damit Investoren wieder Papiere jener Länder kaufen, die gegenwärtig in die Nähe der Pleite schlittern. Ob das klappt, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Einiges aber hat sich bereits jetzt gezeigt: Europa wird weder völlig umgebaut noch eine andere Gestalt annehmen. Selbst wenn einzelne Länder immer noch der Insolvenz entgegenrutschen, ist die ökonomische Apokalypse erst einmal abgesagt, und all die Hysteriker als Historiker können Brüning, Marx und Bismarck vorläufig wieder ins Bücherregal stellen.

Noch wichtiger ist: Das vereinigte Europa ist eine schöne, historisch bedingte Idee. Die Realität aber sieht schon lange so aus, dass es höchst unterschiedliche Interessen der früher in der EG und jetzt in der EU verbundenen Staaten gibt. Dieser schönen Idee ist geschuldet, dass seit Beginn der neunziger Jahre immer mehr Staaten diesem Verbund beitreten konnten, was die Ungleichheit und die Unterschiedlichkeit nur noch verstärkt hat.

Kroatiens gerade unterzeichneter Beitrittsvertrag ist das jüngste Beispiel dafür, dass auch heute noch Staaten aus nahezu emotionalen Gründen in die EU aufgenommen werden, die unter ökonomischen, rechts- oder sozialpolitischen Gesichtspunkten draußen bleiben sollten. Je größer die EU geworden ist, desto weiter hat sie sich davon entfernt, ein handlungsfähiger Bund mit Institutionen zu werden, deren Gestaltungsmacht nationalen Regierungen oder Parlamenten ähnelt. Zugespitzt gesagt: Die EU ähnelt heute in manchen Bereichen mehr der OSZE als der alten EG. Auch deswegen fällt entschlossenes Handeln so schwer.

Nörgelnde Briten

Der Brüsseler Gipfel belegt die Unterschiedlichkeit der Interessen. Auch die Motive der dissidenten Staaten sind keineswegs ähnlich, sie reichen vom Eigeninteresse der britischen Torys an der Londoner Finanzwirtschaft bis zur Einbringung eines Parlamentsvorbehalts durch die Schweden. Speziell die Briten gefallen sich seit Margaret Thatcher in der Rolle des nörgelnden Alten auf dem Balkon. Wenn sie das mögen, bitte, kein Problem. In Europa ist Platz für Mitspieler und für querulatorische Zuschauer.

Ohnehin bewegt sich Europa, zumal das überdehnte EU-Europa, seit langem mit mehr als nur zwei Geschwindigkeiten. Es wird tendenziell in Zukunft mehr Unter-Bündnisse in der EU geben, wobei vermutlich die Euro-Gruppe das bedeutendste dieser Unter-Bündnisse bleiben wird. In der Euro-Gruppe aber muss die Disziplin am größten sein, weil das Schicksal einer gemeinsamen Währung leider und glücklicherweise eine auch koordinierte Politik erfordert.

Eine Währung ist dann stabil und stark, wenn die Wirtschaftspolitik des jeweiligen Staates solide ist - nicht zu viele Schulden, keine zu hohe Staatsquote, eine produktive Industrie, die in etwa ausgeglichen für den Export und den Binnenkonsum zu wettbewerbsfähigen Preisen produziert. Diese Kriterien werden von einzelnen Staaten der Euro-Zone einigermaßen erfüllt, von anderen wiederum gar nicht.

Verheiratung unterschiedlicher Volkswirtschaften

Ein Geburtsfehler der Euro-Union war die Verheiratung von unterschiedlichen Ländern mit höchst unterschiedlichen Volkswirtschaften unter dem Dach des Euro. Das funktionierte einige Jahre, in denen sich etliche Länder bewusst - und nicht wegen Steuerflüchtlingen oder der Bankenkrise - über die Maßen verschuldeten, weil sie Geld zu Konditionen wie nie zuvor bekamen. Notabene, wenn sich die Unterschiede irgendwann einmal (und mutmaßlich nach der Pleite von mindestens Griechenland) angleichen sollten, wird das lange dauern. Wer eine solche Harmonisierung als Teil der Lösung der aktuellen Schuldenkrise vorschlägt, der propagiert nur weiße Salbe.

Die Möglichkeit, Geld auf dem Kreditmarkt von den Bäumen zu pflücken, schuf das Trugbild einer Euro-Prosperitätszone, in der sich Unterschiede angleichen. In Wirklichkeit benahmen sich viele Regierende so wie vor 2008 jene amerikanischen Hauskäufer, die von willigen Banken ungesicherte Kredite für Häuser erhielten, die sie sich nicht leisten konnten.

Gewiss, gierige Kreditgeber haben ihren Anteil an der Euro-Misere. Die Hauptschuld aber tragen die Kreditnehmer-Regierungen, aber auch die sie stützenden Wähler. In diesem Sinne hat die Occupy-Bewegung ("wir sind die anderen 99 Prozent") unrecht: Die Staatsschuldenkrise ist nicht nur von einem Prozent verursacht worden. Die Schuldenmacher wurden bei Wahlen legitimiert, überall und immer wieder.

Euro als Einigungsbeschleuniger

Die Währung eines Landes ist lediglich ein Instrument für Bürger, Wirtschaft und Staat. Im Falle des Euro aber wurde das Instrument zum Politikzweck - das gemeinsame Geld sollte die voranschreitende Einigung nicht nur symbolisieren, sondern die Entstehung politischer Institutionen fördern, die ihrerseits das Wohlergehen der Währung sichern sollten. Das hat nicht funktioniert, eben auch weil Europa aus einer Fülle souveräner, sehr disparater Staaten besteht. Die Vorstellung, der Euro könne aus dieser Vielfalt Einheit machen, ist ungefähr so realistisch, wie wenn man ein Ei auf die Wiese setzt und darauf wartet, dass aus diesem einen Ei Hühner, Hähne, ein Hühnerstall und ein Hund entstehen, der den Fuchs vom Hühnerhof fern hält.

Leider ist auch die Annahme Humbug, die Schulden in der Euro-Zone dürften nicht "vergemeinschaftet" werden. Seitdem es den Euro gibt, ist Deutschland von der Etatpolitik in Spanien oder der Bonität Italiens abhängig. Diese Länder zahlen (oder zahlen nicht) in unserer Währung, sie prosperieren oder gehen pleite in unserer Währung. Es gilt: mitgefangen, mitgehangen. Man kann nicht den "deutschen" Euro retten, indem man dem "europäischen" Euro nur sehr begrenzte Garantien gibt. Es muss auf eine Mischung aus Kontrolle und Strafen sowie aus Garantien und Schuldenaufkäufen auch durch die EZB hinauslaufen.

Kein Mensch weiß, wie Europa in 50 Jahren aussehen wird, zumal da ungewiss ist, was in fünf Monaten mit der Euro-Zone sein wird. Und dennoch: Nie waren Freiheit und Freizügigkeit in Europa größer als heute, nie war die Kriegsgefahr geringer. Die Nationalstaaten bleiben die wichtigsten Akteure in der EU. Aber sie haben sich, auch durch den Euro, auf Gedeih - und nicht auf Verderb! - an diese vage, große Idee gebunden.

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