Europäische Union:Einfach abriegeln

Die EU-Kommission will sich in ihrer Flüchtlingspolitik künftig auf das wichtigste Transitland konzentrieren: Libyen. Im Gespräch ist sogar ein schwimmender Schutzwall vor der nordafrikanischen Küste.

Von Thomas Kirchner, Brüssel

Nach den Bemühungen, den Flüchtlingsstrom im östlichen Mittelmeer zu stoppen, richtet die EU ihre Aufmerksamkeit nun auf Libyen. Von dort kommen inzwischen wieder mit großem Abstand die meisten Migranten nach Europa. Mit 200 Millionen Euro aus dem EU-Afrika-Treuhandfonds und neuen Initiativen müsse das nordafrikanische Land rasch stabilisiert werden, forderte die EU-Kommission am Mittwoch. Die EU solle der libyschen Einheitsregierung helfen, die Lage an der Küste in den Griff zu bekommen. Vorschläge der Regierung Maltas, das gegenwärtig die Ratspräsidentschaft der EU inne hat, zielen sogar darauf ab, diese Küste mehr oder weniger abzuriegeln.

90 Prozent der 181 000 Migranten, die 2016 in Italien landeten, hatten den Weg über das nordafrikanische Land genommen. Das waren mehr als je zuvor. Das gilt auch für die 4500 Menschen, die bei der Fahrt über das zentrale Mittelmeer ertranken. Diese Route ist laut Kommission jetzt wieder die dominante Strecke.

Wenn die EU jetzt nicht handle, werde die unkontrollierte irreguläre Migration über diesen Weg im Frühjahr zunehmen, warnte die Kommission. Das Leid der Menschen könne nicht toleriert werden. "Wir müssen alle mehr tun", sagte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini. Es sei klar, dass das Problem langfristig nur durch Frieden und Stabilität in Libyen sowie einen wirtschaftlichen Aufschwung in ganz Afrika gelöst werden könne. Doch auch kurzfristig lasse sich manches verbessern. Etwa bei der Ausbildung der libyschen Küstenwache durch europäische Berater, die angelaufen, aber noch nicht sehr weit gediehen ist. Sie müsse in die Lage versetzt werden, "Leben zu retten" und "den Schmugglern das Handwerk zu legen". Helfen will die EU auch bei der Anschaffung von Schiffen und beim Aufbau eines Zentrums zur Rettung von Flüchtlingen aus Seenot. Ein zweiter Aspekt soll die bessere Zusammenarbeit mit den südlichen Nachbarn Libyens sein, etwa Tschad und Niger, das schon über ein "Partnerschaftsabkommen" mit der EU verbunden ist. Im Norden wiederum will die EU Tunesien, Algerien und Ägypten stärker einbinden. Diesen Ländern werden jeweils mehr Geld und Unterstützung gegen mehr Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise angeboten. Mit Hilfe des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR und der Internationalen Organisation für Migration soll zudem die Situation von Migranten in Libyen verbessert werden.

Ziel der EU ist es, einerseits Leben zu retten, vor allem aber, wie Innenkommissar Dimitri Avramopoulos betonte, die Zahl der übersetzenden Migranten zu senken. Denn nur dann könne es in der Union selbst politische Fortschritte in der Bewältigung der Krise geben: bei der Frage nach einer solidarischen Verteilung der Flüchtlinge auf alle Staaten, bei der Reform des gemeinsamen Asylsystems sowie bei den Bemühungen, Flüchtlinge zurück in ihre Herkunftsländer zu schicken.

Europäische Union: Startpunkt Libyen: 90 Prozent der 181 000 Migranten, die 2016 in Italien landeten, waren in dem nordafrikanischen Bürgerkriegsland gestartet.

Startpunkt Libyen: 90 Prozent der 181 000 Migranten, die 2016 in Italien landeten, waren in dem nordafrikanischen Bürgerkriegsland gestartet.

(Foto: Aris Messinis/AFP)

Aus einem Diskussionspapier der maltesischen Regierung zur Vorbereitung des Sondergipfels Ende kommender Woche geht hervor, was die EU mit der Hilfe für die libysche Küstenwache im Sinn hat. Am besten wäre es demnach, die Rettungsschiffe, die 2016 mehr als 30 000 Migranten im Mittelmeer aufgriffen, schon in libyschen Gewässern operieren zu lassen. Ein solcher Schritt sei aber wegen der politischen Instabilität in Libyen nicht zu erwarten. Alternativ könne man versuchen, einen "möglichst dichten Schutzwall" um die Häfen zu ziehen, in denen Migranten Boote Richtung Europa besteigen. Dabei sollten die neu geschaffene Europäische Grenz- und Küstenwache sowie Länder wie Italien oder Malta die Libyer unterstützen. Die implizite Absicht ist, aufgegriffene Migranten nicht weiter wie bisher nach Italien, sondern zurück nach Libyen zu bringen.

Einen Deal wie mit der Türkei könne man mit Nordafrika nicht schließen, heißt es in Brüssel

Malta dringt auf schnelles Handeln. Im Frühjahr sei mit einem starken Anstieg der Zahl der Überfahrten zu rechnen, warnte Premier Joseph Muscat vergangene Woche vor dem Europäischen Parlament. Die Europäische Union dürfe einer solchen Krise nicht abermals unvorbereitet gegenüberstehen. Sonst könnten die "Kernprinzipien" der EU "ernsthaft auf die Probe gestellt werden". Deshalb müssten mit den nordafrikanischen Staaten dringend Vereinbarungen nach dem Muster des Deals mit der Türkei geschlossen werden. Die Kommission betonte am Mittwoch allerdings mehrmals, dass es sich um "völlig unterschiedliche" Situationen handle und deshalb auch unterschiedliche Maßnahmen nötig seien.

Die Kommission beschloss zudem, einigen Ländern des eigentlich grenzfreien Schengen-Raums für weitere drei Monate Grenzkontrollen zu erlauben. Sie waren im Zuge der Flüchtlingskrise eingeführt worden. Neben Deutschland betrifft dies Österreich, Dänemark, Schweden und das Nicht-EU-Land Norwegen. Die Behörde betonte, sie orientiere sich allein an den Fakten und nicht an eventuell bevorstehenden Wahlterminen.

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