Europäische Union:Ein Haus für alle

European Union Headquarters

Wie ein riesiger Magnet zieht das EU-Parlamentsgebäude Menschen in sein Inneres.

(Foto: Jock Fistick/Bloomberg)

24 Sprachen, 28 Länder, 751 direkt gewählte Abgeordnete: Das EU-Parlament in Brüssel ist ein einzigartiger Kosmos, mit eigenem Jargon und wunderlichen Ritualen. Unterwegs mit zwei Kennern.

Von Pia Ratzesberger, Brüssel

Es ist noch früh am Morgen, und sie sind alle in die gleiche Richtung unterwegs. Wie ein riesiger Magnet zieht das Europäische Parlament die Menschen in sein Inneres. Man muss nur hinhören, während sie auf den Eingang zulaufen: Französisch. Finnisch. Griechisch. Ungarisch. Rumänisch. 24 Sprachen, 28 Länder, 751 Abgeordnete. Es gibt kein anderes Parlament auf der Welt, in dem so viele Nationen vertreten sind und das von den Bürgern direkt gewählt wird. Ein solches Parlament könnte den Menschen ganz nahe sein. Doch immer mehr von ihnen verstehen nicht, was die Abgeordneten hier machen. Das ist eines der großen Probleme Europas, gerade jetzt, wo so viele das Vertrauen in die Politiker verloren haben.

Eine junge Frau steuert mit den anderen auf das Parlament zu. Julia Reda beißt in ihr Teilchen vom Bäcker, sie wird nicht viel Zeit haben im Büro im fünften Stock, sie muss in den Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz. Imco nennen sie den hier, kurz für Internal Market and Consumer Protection. In Brüssel liebt man Abkürzungen. Vier Stockwerke über Redas Büro macht sich György Schöpflin fertig, ein Herr mit buschigen Augenbrauen. Er geht nun in die Sitzung des Afco-Ausschusses, zuständig für konstitutionelle Fragen. Er steckt seine kleinen Kopfhörer ein, von denen im Saal kriegt er Kopfschmerzen. Seit dreizehn Jahren ist er EU-Parlamentarier. Julia Reda seit drei Jahren. Sie sitzen im gleichen Haus, aber sie nehmen es ganz anders wahr.

Im Ausschuss sind nicht nur die Reden wichtig, sondern auch, was davor und danach passiert

György Schöpflin steigt in den Aufzug. Er ist Ungar, 77 Jahre alt, er war noch ein Kind, als in seiner Straße Bomben fielen. Schöpflin ist Mitglied der Fidesz-Partei des ungarischen Premiers Viktor Orbán, in Brüssel gehört er zur Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP). Manche seiner EVP-Kollegen würden die nationalpopulistische Partei am liebsten ausschließen. Schöpflin sagt: "Die Politik hat ihre Längen, aber sie kriegt mich zumindest jeden Tag aus dem Bett."

Auch Julia Reda steigt in den Aufzug. Sie ist Deutsche, 30 Jahre alt, aufgewachsen in einem Europa, in dem keine Bomben mehr fallen. Reda ist Mitglied in der Piratenpartei, in Brüssel gehört sie zur Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz. Sie sagt: "Leute über 40 haben ja kein Monopol darauf, die Gesellschaft zu vertreten."

Der Saal hat sieben Reihen, Julia Reda setzt sich links in die vierte. Sie stimmen gleich ab, aber in diesem Haus ist nicht nur wichtig, was während der Reden gesagt wird, sondern auch, was davor, dazwischen, danach passiert. Reda, eine Frau mit kurzem Haar und kariertem Hemd, sieht sich suchend um. Sie will einen Kollegen der EVP abpassen, der nicht zum "Schattenberichterstattertreffen" erschienen ist. Das Parlament hat seine eigene Sprache, Imco, Afco, Schattenberichterstatter. Auf ihrem Blog hat Reda eine Rubrik, sie heißt "Der Reda-Bericht erklärt". Es ist ihr Versuch, die EU-Sprache zu übersetzen. Reda staunt selbst manchmal noch über "diese Parallelwelt", auch wenn man ihr das nicht anmerkt, wenn sie mit festem Blick durch den Saal geht.

In dieser Parallelwelt geht es schon damit los, dass nicht das Parlament Gesetze vor schlägt, sondern die Europäische Kommission. Zu jedem Gesetzesvorschlag erstellt der zuständige Ausschuss im Parlament einen Bericht, für den ist jeweils einer der Abgeordneten verantwortlich. Dieser Berichterstatter muss mit allen Fraktionen im Ausschuss einen Kompromiss aushandeln, und dafür hat jede Fraktion einen eigenen Schattenberichterstatter.

Julia Reda ist Berichterstatterin für ein Gesetz zum Geoblocking, übersetzt: Es geht um die Frage, ob sich etwa jemand in Paris online einen ZDF-Zweiteiler ansehen kann. Reda nimmt sich den Kollegen vor, der hinter ihrem Rücken mit einer anderen Fraktion gesprochen hat. Der Kollege hebt abwehrend die Hände. "Du musst klarmachen, dass sie das mit dir nicht machen können", wird ihre Mitarbeiterin später im Büro sagen, ein anderer wird ihr ein Sandwich bringen. Reda wird bis zur nächsten Sitzung 27 Seiten mit Änderungsanträgen durchgehen müssen. Sie hat eine Stunde. "Da hangelt man sich eben so durch." 24 Sprachen, 28 Länder, 751 Abgeordnete. Und sehr, sehr viele Sitzungen.

Auf Redas Bildschirm leuchtet eine Erinnerung auf, jetzt "drop by Micheles Event", kurz bei Michele vorbeischauen, aber dafür hat sie keine Zeit. Vor ihr die Änderungsanträge, sie hakt ab, streicht durch. Sie starrt auf das Papier. Doch so genau sie auch liest, immer spielt der Zufall mit: Ein Wort ist falsch übersetzt. Ein Abgeordneter ist krank, bei der Abstimmung fehlt seine Stimme. Reda hat das überrascht. Letztlich, wird sie später noch sagen, gebe es drei Gruppen von Abgeordneten in diesem Haus: Die, die Brüssel als Schritt in die nationale Politik sehen. Die, die nur Europapolitik machen wollen. Und die dritte Gruppe, die hier ihren Lebensabend verbringt.

György Schöpflin sitzt in der ersten Reihe rechts, Afco-Ausschuss. Gerade sind sie bei Punkt sieben auf der Tagesordnung angekommen, es geht um die europäische Bürgerinitiative, übersetzt: Bürger sollen die Kommission auffordern dürfen, ein Gesetz vorzuschlagen. Berichterstatter ist Schöpflin, aber jetzt fehlen im Saal die Dolmetscher für die Rumänen. Die Vorsitzende stöhnt. Schöpflin lächelt, er spricht perfektes Englisch. Seine Eltern sind vor dem Krieg geflohen, nach Schweden, dann England. Er war lange Professor in London.

Eine Bürgerinitiative bringe nichts, sagt Schöpflin, wenn die Kommission nicht zum Handeln verpflichtet sei. "Ich habe das Gefühl, dass sich die Kommission von den Bürgern fernhält." Einer der Schattenberichterstatter sagt: Er freue sich, dass Schöpflin seinen Bericht fortführe, der nickt ihm dankend zu. Es ist gerade nicht so wichtig, dass Schöpflin einmal getwittert hat, man solle Schweineköpfe an den Grenzen aufstellen, um Flüchtlinge abzuschrecken. Dass er nicht verstehen kann, warum mit dem Hochschulgesetz in Ungarn die akademische Freiheit bedroht sein soll. In den Ausschüssen geht es oft um technische Details, die Parteizugehörigkeit rückt in den Hintergrund.

Julia Reda, 30 Jahre, vermisst in den Gängen des Parlaments oft das europäische Bewusstsein

Ganz Europa in einem Haus. Doch in den Gängen dieses Hauses fehlt es Julia Reda, 30 Jahre, manchmal am europäischen Bewusstsein. Und György Schöpflin, 77 Jahre, fehlt es an Verständnis für seinen Nationalstaat. Er sagt, die großen Mitgliedstaaten wollten allen ihre Werte aufdrücken, "linksliberaler Universalismus". Dann sagt er: "Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich bin kein Anti-Europäer." Er ist für die Europäische Bürgerinitiative, zum Beispiel. Aber er findet auch richtig, dass Ungarn an der serbischen Grenze einen Zaun baut. Dass die EU die Grenzen verstärkt, während Julia Reda keine Grenzen will.

Als Schöpflin herkam, war sein Land eines von zehn, die neu einzogen. 25 Mitgliedstaaten waren es damals. Das Haus stand stabil, alle wollten in die EU. Lange her. Aus dem Fenster seines Büros sieht Schöpflin seine Wohnung, er schläft dort von Montag bis Freitag, oft geht er spät. "Das Problem mit diesem Gebäude ist, wenn du drin bist, ist es schwer rauszukommen." Heute noch: eine vorbereitende Sitzung, ein Treffen von Koordinatoren, der Ausschuss. Es gibt Trakte in diesem Haus, in denen sei er noch nie gewesen, sagt Schöpflin. Julia Reda geht es genauso.

Am Abend wird sie im fünften Stock die Tür schließen, Zimmer 158. György Schöpflin wird im neunten Stock die Tür schließen, Zimmer 157. Sie werden den Aufzug nach unten nehmen. Manchmal muss man lange warten, bis einer der sechs Fahrstühle kommt. Manchmal ist einer kaputt. Aber sie fahren.

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